An einem Konzert von Marius Bear kannst du nur verlieren
Ein bärenstarker Marius Bear zog im ausverkauften Kaufleuten alle Register seiner Stimmgewalt. Weshalb das gleichzeitig genial und schlimm war.
Als «Schweizer Joe Cocker» wird er bejubelt: Marius Bär alias Marius Bear. Ein hochgewachsener Appenzeller mit einer Stimme, die den Alpstein erschüttert. Im Herbst 2018 erlebte ich den Ausnahmesänger erstmals am Kaltern Pop. Schon damals war klar: Dieser Hüne hat eine Megatonnen-Sprengkraft, ist eine Naturgewalt. Alles niederwalzend wie eine Lawine.
Seither ist viel geschehen. Bear hat am 13. Dezember 2019 sein Album Not Loud Enough veröffentlicht. Auch die Zahl seiner Anhänger hat sich stetig gesteigert – bis zum Punkt, an dem er es vermag, das Zürcher Kaufleuten auszuverkaufen.
Barfüssige Wucht
Im altehrwürdigen Saal drängen sich Alt und Jung, Städter und Landeier. Schulter an Schulter ist der kleinste gemeinsame Nenner die Bewunderung für Bears Stimmgewalt.
Barfuss, so steht Bear auf der Bühne.
Das Ritual ist immer dasselbe: Marius Bear betritt die Bühne, streift die Schuhe von den Füssen und schlüpft aus den Socken. Barfuss steht er auf der Bühne, spürt den Untergrund, so als müsse er mit der Erde verbunden sein, um diese organische Wucht in seinen Stimmbändern zu beschwören.
Und eine Wucht ist der Sound zweifellos. Bear und Band röhren und krachen durch sein bisheriges Schaffen, interpretieren andere Künstler wie die Black Keys und ihren Überhit Lonely Boy. Der Raum vibriert, die Energie ist beinahe greifbar. An diesem Freitagabend, erschöpft vom Alltag, überzeugt Marius Bear einen, dass das Leben eigentlich doch verdammt schön ist.
Entblösste Seelen
So mitreissend es auch ist, wenn Marius Bear sein Fuss aufs Gaspedal drückt, verblassen diese Hymnen im Angesicht der ruhigen Momente. Es sind jene Songs, in denen sich Bear zur Gänze entfaltet.
Und plötzlich merkt man, dass man verloren hat. Denn wer Marius Bear live erlebt hat, wird seine Aufnahmen fortan mit Bedauern hören. Wer Bear hingegen noch nie auf der Bühne gesehen hat, kennt nur die halbe Wahrheit.
Die herzergreifende Grossartigkeit, diese tiefschürfende Kraft seiner Stimme lässt sich nicht bannen. Es sind intime, verletzliche Augenblicke. Marius Bear entblösst die eigene und damit alle anderen Seelen im Raum und durchbohrt sie mit einer glühenden Spitze aus Liebe, Sehnsucht und Schmerz.
Auch wenn man nur verliert, fühlt es sich nie wie eine Niederlage an. Das Wissen, dass man Bear nur in direkter Gegenwart ganz erfassen mag, schenkt Gelassenheit.
Da schwingt eine Portion Schadenfreude mit, denn die Smartphone-Dauerfilmer können sich noch so sehr bemühen; sie werden im Versuch kläglich scheitern.
Nichts ist so eindrücklich wie die ungeteilte Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt. Nichts ist so unbeschreiblich, wie das volle Auskosten des Augenblicks, als Marius Bear mit seiner Band in die Mitte des Publikums steigt und unplugged einen elektrisierenden Abschied spielt.