Modenschau mit Live-Musik
Die Zeiten von ausverkauften Stadien ist für Cher vorbei. Im Hallenstadion sind mindestens sechs Sektoren mit schwarzen Stoffbahnen abgedeckt worden, damit die freien Plätze weniger auffallen. Aber wer in der Halle ist, kann sich vor Begeisterung kaum auf den Sitzen halten.
Eröffnet wird die Show durch eine Slideshow mit vielen Fotos und Video-Einspielern aus ihrer Karriere, während der Song Woman’s World spielt. Der Vorhang fällt und das eindrückliche Bühnenbild kommt zum Vorschein – mittendrin Cher auf einer schwebenden Plattform. Mit blauer Perücke und orientalisch anmutendem Outfit.
Unglaublich, dass Cher vergangenen Mai ihren 73. Geburtstag feierte! Ich muss lachen, weil mir ein Interview mit ihr einfällt. Ein Journalist fragte sie nach ihrem Alter und sie antwortete: «Teile von mir werden 40.» Die Schönheits-OPs sind kein Geheimnis, aber hat sie es irgendwie geschafft, nicht nur optisch in ihren Vierzigern zu bleiben?
Klar, das opulente Bühnenbild und die vielen Tänzer erzeugen beim Publikum den Eindruck eines energiegeladenen Auftritts. Wer aber genauer hinschaut bemerkt, dass Cher mehr oder weniger bei all ihren Songs eher dekorativ dasteht und nur zwischendurch ein paar (Tanz-)Schritte aufs Parkett legt.
Live-Konzert oder Video-Abend mit Modenschau?
Wer Cher zum ersten Mal live sieht, könnte die vielen Zwischenspiele ohne ihr Zutun auf ihr Alter schieben. Dass sie nach gefühlt jedem Song in ein anderes Outfit schlüpft, hat aber damit nichts zu tun. Das ist einfach Cher, die uns innerhalb von 90 Minuten ihren gesamten Kleiderschrank präsentieren will.
Die Performance der Trapezkünstler zu Chers Song Lie To Me ist wunderschön. Noch beeindruckender wäre es gewesen, wäre der Song nicht ab Band gelaufen. Allgemein lassen die vielen Unterbrecher den Zauber verpuffen, den sie auf der Bühne aufbaut. Und ich frage mich, warum man so viel für ein Ticket bezahlt, wenn man Cher zu 50 Prozent nur in Videos sieht. Bei 7 der insgesamt 15 Songs ist Cher hinter den Kulissen und zieht sich um. Das scheint dem anwesenden Publikum aber nichts anhaben zu können. Immer wieder reisst es sie von den Sitzen und sie jubeln bei jeder Darbietung – mit und ohne Cher.
Auch wenn sie uns heute Abend wie an anderen Konzerten Wort für Wort die gleiche Story über den legendären Auftritt bei David Letterman erzählt , landet sie damit einen Lacher nach dem anderen.
Allerdings flechtet sie danach spontan ein, wie alt sie ist, und dass sie ihr Alter hasse. Jede Frau die behaupte, sie habe kein Problem mit dem Älterwerden, lüge. Allerdings wolle sie den jungen Frauen ans Herz legen, sie sollen ihr Leben geniessen. Und die ältere Generation solle tun und lassen, was sie wolle. So wie sie. Es sei nie zu spät, um Träume auszuleben.
«Look at me! I am 73, standing on that stage. What is your Grandma doing tonight?»
—Cher während ihres Auftritts in Zürich
Nichtsdestotrotz bin ich fasziniert von Cher. Das Alter kann ihrer Ausstrahlung nichts anhaben und die raue, tiefe Stimme ist stark und kräftig wie eh und je. Sie braucht keine Power-Moves und kann die Choreographie getrost ihren Tänzern überlassen. Mal abgesehen davon, dass sie eine Figur hat, von der manch 30-Jährige nur zu Träumen vermag und sie in ihren Outfits umwerfend aussieht.
Trotzdem verpufft die Energie, sobald sie die Bühne verlässt. Obwohl zwei Drittel aller Songs auf der Setlist von ihr sind, hatte ich zwischendurch den Eindruck, nur Coversongs zu hören. Vielleicht hätte sie diese sechs Songs in der Setlist nicht beinahe in einem Block unterbringen sollen?
Konzert, Musical und Varieté in einem
Das Bühnenbild und die Tänzer erinnern stark an ein Musical. 2003 gewann sie einen Emmy in der Kategorie «Herausragendes Varieté-, Musik- oder Comedyspecial» für ihre The Farewell Tour. Das verwundert wenig, denn Cher ist nicht nur eine äusserst erfolgreiche Popsängerin, sondern auch mehrfach ausgezeichnete Musical-Darstellerin.
Seit 1967 spielte sie zudem in 16 Kinofilmen mit, unter anderem bei Die Hexen von Eastwick, Mermaids oder im zweiten Teil der Musicalverfilmung Mamma Mia! Here We Go Again. Mit Moonstruck gewinnt sie 1988 den Oscar und einen golden Globe als beste Hauptdarstellerin. Zum Oscar-Gewinn sagt Cher unter anderem, dass man sie in der Vergangenheit weder als Sängerin noch als Schauspielerin akzeptiert habe, obwohl sie in beiden Bereichen sehr erfolgreich ist.
«It finally meant that I was accepted in some area of my work, because… you know… I’m never really been accepted by singers as a singer and actors don’t think of me as an actor. I actually succeeded in everything I’ve ever tried and yet I’m not part of any of the groups. And I don’t think that this means that I am somebody, but I guess I’m on my way.»
—Cher über ihren Oscar 1988
Als Sängerin zählt sie zu den kommerziell erfolgreichsten Musikerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts, die in ihrer Solokarriere bisher über 200 Millionen Platten verkaufte. Die heutige Zugabe Believe ist nicht nur eine der populärsten Singles weltweit. Sie ist einer der Songs, die Auto-Tune zur Stimmverfremdung verwendet, der später als Cher-Effekt bezeichnet wird.
Cher verändert nicht nur ständig ihren Look, sie bricht auch ihre eigenen Rekorde. Sie ist die einzige Künstlerin, die in jedem Jahrzehnt ihrer Karriere einen Nummer-1-Hit in den Billboard Charts platzieren konnte. Am erfolgreichsten ist das vierfach mit Platin ausgezeichnete Album Believe, das sich seit 1998 über 20 Millionen Mal verkauft hat.
Sie nimmt kein Blatt vor den Mund
Für ihre persönliche Psycho-Hygiene lässt sie ihren Höhen und Tiefen regelmässig freien Lauf auf Twitter. Ähnlich wie P!nk nimmt sie dabei kein Blatt vor den Mund. Cher lässt sich nicht alles gefallen und überrascht mit Antworten, die dem anderen eigentlich den Wind aus den Segeln nehmen müsste. Bezeichnet sie jemand als hässlich, antwortet sie schlicht: «Mag sein, alles verändert sich. Aber ich habe unsichtbare Kräfte, die ausgleichen, was mir an Aussehen mangelt.».
In ihren Songtexten findet jeder etwas, um seinen Herzschmerz zu lindern. Fast schon wie eine Therapeutin singt sie uns Lösungen und Perspektiven vor. Sie nutzt aber auch andere Kanäle für ihre Botschaften, die zum Nachdenken anregen. Ein wunderbares Beispiel dafür finde ich diese Aussage: «Ich glaube nicht, dass wir mit einer bestimmten Anzahl an Träumen geboren wurden. Das schöne an Träumen ist, dass sie sein können, was auch immer du willst. Du musst sie nicht beschränken, du musst sie nicht mal kennen.»
«I don’t think that we are born with a finite number of dreams. One thing about dreams is that they can be whatever you want them to be, you don’t have to put a limit on them, you don’t even have to know them.»
—Cher in einem früheren Interview
Während ich die letzten Klänge von Believe noch in den Ohren habe, verlasse ich das Hallenstadion und überlege mir, welchen meiner Träume ich als nächstes weiter ausfeilen soll. Es wird Zeit, ihm nicht nur in Gedanken nachzujagen, es wird Zeit ihn wahr werden zu lassen.