«Wir sind eine Liveband, das dürfen wir nicht aufgeben»
Die Editors spielten im ausverkauften Komplex 457 in Zürich. Von den schlimmen Zuständen am Konzert war noch nichts zu spüren, als sich Ed Lay und Russell Leetch Zeit für unsere Fragen nahmen.
In der Luft hängt eine Mischung aus Aufregung und Lockerheit. Noch ist es kühl im Komplex 457 – zumindest im Erdgeschoss. Oben auf der Galerie drückt bereits eine schwüle Hitze. Das Fumoir ist eine tropische Katastrophe und die Dachterrasse bleibt aus unerfindlichen Gründen geschlossen. Schon jetzt ist klar: Ein unangenehmer Abend steht bevor. Das Konzert der Editors ist ausverkauft.
Wenig später fand man sich in der Hölle wieder. Vier junge Briten lieferten das Dröhnen zur Bruthitze. October Drift donnerten einem fast apathischen Publikum entgegen. Nur zwischen den Songs vermochte man sich einem kurzen Jubelausbruch hingeben. So lähmend war das Klima, vor dem es kein Entrinnen gab.
«Gemeinsam mit Leo Abrahams haben wir die Ideen synthetisiert.»
Später Nachmittag in Zürich. Die Sonne brennt sommerlich auf den Asphalt. Aufgemotzte Autos krachen über die Hohlstrasse, beobachtet von den treusten Fans, die bereits mehr als eine Stunde vor Türöffnung dasitzen.
Hinter den Backsteinmauern des Komplex ist es ruhig. In einem schummrigen Umkleideraum nehmen Ed Lay und Russell Leetch auf dem Sofa Platz. Ed, der Drummer der Editors, ist ein schmächtiger Mann mit zerzaustem Haar. Man glaubt kaum, dass diese dünnen Arme für das treibende Sound-Fundament sorgen. Bassist Russell ist das pure Gegenteil. Ein Bär von Mann, hochgewachsen und breit gebaut. Aber mit freundlichem Blitzen in den Augen. Im Hintergrund brummt der Kühlschrank.
Am 9. März 2018 haben die Editors ihr sechstes Album veröffentlicht. Violence ist ein Werk, das der Band aus Birmingham gerecht wird. Laut, leise und mitreissend.
«Es war ein langer Prozess. Wir waren in Oxford auf einem Bauernhof und haben nach Ideen gefischt», erinnert sich Russell. Ein halbes Jahr später nahmen die Demos immer deutlicher Gestalt an.
Dann kam der Electronic-Künstler Blanck Mass ins Spiel. «Seine Versionen der Songs unterschieden sich deutlich von unseren. Zusammen mit dem Produzenten und Gitarristen Leo Abrahams haben wir die Ideen synthetisiert», sagt Russell.
«Kein Wunder war die Stimmung bei null.»
Der elektronische Einschlag in Violence ist unüberhörbar, wenn auch weniger aggressiv wie im Vorgänger In Dream. «Wir haben schon immer elektronische Elemente eingesetzt. Ich glaube nicht, dass Violence direkt von In Dream beinflusst ist», erklärt Ed. Aber, gibt er zu, Electronica gebe ihnen ein breiteres Soundspektrum. Dennoch habe sich ihr Ansporn nicht verändert: «Wir wollen das menschliche Gefühl einer Band mit den ausserirdisch anmutenden Klängen vereinen.»
October Drift haben ihr Set beendet. Schweissperlen zieren die Hälse. Noch immer strömen Menschen in den Saal. «Lasst noch ein bisschen mehr Leute rein…», schreibt ein Besucher auf Facebook. Der Sarkasmus trieft in dieser Zeile.
Nach dem Konzert wird sich die Kritik am Veranstalter Good News und dem Komplex nochmals vervielfachen. «Was für ein Scheissladen ist das denn?!», echauffiert sich ein anderer und beklagt lange Wartezeiten an der Bar, das tropische Klima und die schlechte Akustik. Eine Besucherin stimmt ihm zu: «Die Security war sehr unhöflich und vergisst, wer die zahlenden Kunden sind.» Es sei schade, dass man eine tolle Band nicht geniessen konnte, weil die Zustünde nicht aushaltbar gewesen seien. «Kein Wunder war die Stimmung bei null», meint einer.
Sie alle haben Recht. Ein Genuss war dieses Konzert nicht. Da half auch die kühle Brise der melancholischen Songs nicht. Sie fachte die Glut bloss noch mehr an. Obwohl die Editors einen unglaublich starken Auftritt hinlegten, war das Publikum mehr mit transpirieren beschäftigt. Die Gesichter rot und erschöpft.
Dabei ist die Verbindung zwischen Band und Publikum – gerade für die Editors – besonders wichtig. Mehr als andere Gruppen rücken die Gefühle ins Rampenlicht, die ihre Musik auslösen. Das sei wohl ein Grund, dass sich Menschen rund um den Globus von ihrer Musik angesprochen fühlen, mutmasst Russell vor der Show. «Wir wollen diese Emotionalität erzeugen. Wir sind mit R.E.M. oder The Cure aufgewachsen, die immer diese emotionale Resonanz hatten.»
Auf ihrer Tour spielen die Editors viele Stücke von Violence. «Die neuen Songs funktionieren live schon sehr gut. Besonders Nothingness und Belong kommen an», sagt Russell. Auch in Zürich werden diese Stücke zu grossartigen Eskapaden. Es scheint, als hätten sich die Editors ihrer Bürde entledigt. Denn die Fans zeigten sich stets enttäuscht, weil sie keine Neuauflage ihrer unsterblichen Hymnen wie An End Has A Start oder The Racing Rats lieferten. «Obwohl wir nur wenige alte Songs spielen, erhalten die deutlich mehr Reaktionen», meint Russel. Er ist aber überzeugt, dass ältere Fans das neue Werk als direkter wahrnehmen. «Violence ist näher an An End Has A Start als die anderen Alben.»
«Manchmal haben wir uns total verirrt.»
Bezeichnend für die neue Ära war dann auch, dass der Evergreen An End Has A Start live total abfiel. Dagegen waren die neuen Songs um ein Vielfaches hochtrabender. Die Editors spielten mit absoluter Intensität. Sänger Tom Smith litt und begehrte auf. Ihre Melodien schnitten durch die stickige Luft. Es hätte ein unvergesslicher Abend werden können, wären die Zustände nicht so unhaltbar gewesen.
Dennoch lieferte die Band auch live den Beweis, dass Violence die grösste musikalische Bandbreite all ihrer Alben hat. Der Weg, den die Songs genommen haben, war lang. Der Titeltrack Violence begann ganz einfach mit Stimme und Piano. «Ich will dich gar nicht durch den ganzen Entstehungsprozess mitnehmen», meint Russell mit einem Lachen. «Das bräuchte etwa neun Monate deines Lebens…»
Es sei eine Entdeckungsreise gewesen, fügt Schlagzeuger Ed an. «Wenn du nicht genau weisst, was du eigentlich willst, bleibt dir nur versuchen und scheitern.» Einige Ideen hätten sich erst richtig angefühlt, doch nach wochenlangem Feinschliff merkten sie: Was machen wir da überhaupt? «Manchmal haben wir uns total verirrt», gibt Ed zu. «Wir arbeiten wohl am besten mit einem Produzenten. Jemandem ausserhalb der Band, der uns die Richtung zeigen kann», ergänzt Russell und gluckst: «Und dem wir die Schuld geben können, wenn’s schlecht rauskommt.»
Die Dualität zwischen Bühne und Studio beschäftigt die Band konstant. «Du kannst einen Song mit auf die Bühne nehmen und er wird ein richtiges Spektakel. Aber im Studio kommt diese Energie nicht gleich rüber», sagt Russell. Die Band hat diese Erfahrung mit Nothing gemacht, das sie lange nur live gespielt haben. Als sie den Track dann auf The Weight Of Your Love veröffentlichten, waren die Fans enttäuscht.
«Ich kann nicht das ganze Konzert hinter dem Computer stehen.»
Auch mit In Dream haben die Editors eine Lektion gelernt: Sie müssen sich bereits im Studio Gedanken zu den Live-Umsetzungen machen. «Es gibt Songs, die nur mit einer Drummachine gut klingen. Aber ich kann nicht das ganze Konzert hinter dem Computer stehen», sagt Ed. «Wir sind eine Liveband und so gewinnen wir neue Fans. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen, nur weil wir den Sound richtiger Drums nicht mögen…» Wieder orientieren sie sich an Bands wie The Cure. Die hätten genau die richtige Balance zwischen synthetischen Klängen und dem analogen Konzertfeeling.
Das grösste Phänomen bleibt aber der Kontrast. Ihre Songs sind düster, bisweilen gar abgründig dunkel. Und doch sind die Konzerte übersät mit frenetischen Höhepunkten. «Vielleicht ist Katharsis ein zu starkes Wort. Doch es ist wie bei Depeche Mode. Die haben auch ein paar ziemlich deprimierende Songs. Aber live sind sie ein richtiges Fest», meint Russell.
Eine Katharsis wie das Konzert vor fünf Jahren im X-Tra war ihre Show im Komplex nicht. Der Moment, als man dann endlich wieder im Freien stand, hingegen schon. Schuld haben die Editors daran definitiv nicht: Sie spielten sich durch ihre 15-jährige Schaffensgeschichte. Eine treibende Performance – vom rasenden Munich bis zum bedrohlich dröhnenden In This Light And On This Evening. Das fordernde Eat Raw Meat = Blood Drool, das zum Himmel strebende A Ton Of Love. Ihr Set mäanderte zwischen Licht und Schatten, zwischen Feuer und Finsternis. Begeisterung und Traum gaben sich die Hand, während die Editors routiniert und doch leidenschaftlich sich dem Moment hingaben.
Dennoch: Die epochale Darbietung von Papillon, gefolgt vom abschliessenden Marching Orders, sollte eigentlich der absolute Klimax sein. Doch Smiths Stimme wurde verschluckt, verloren in der Dschungel-Feuchtigkeit. Wo der Wunsch hätte sein sollen, dass das Konzert noch weitergeht, war die Erleichterung, die Flucht antreten zu können. Ein hervorragendes Konzert, das sich nicht richtig geniessen liess. Das ist an Tragik kaum zu überbieten.
UPDATE: Statement von Veranstalter Good News
Liebe Konzertbesucher
Wir möchten uns für die quälende Hitze und die stickige Luft am Samstag, 21.04.2018 beim Konzert der Editors im Komplex 457 bei euch entschuldigen.
Am späten Nachmittag haben wir von der Halle erfahren, dass ein Teil der Lüftung defekt sei und diese nur zur Hälfte laufen würde. Es kam Frischluft rein, die Umluft funktionierte jedoch nicht. Obwohl von unserer Seite sofort alle möglichen Hebel in Bewegung gesetzt wurden, war es leider nicht möglich, die Lüftung in so kurzer Zeit zu reparieren. Auch das Öffnen der Türen in allen Richtungen brachte nur einen kleinen Erfolg.
Das Komplex 457 ist bereits daran, die Problematik zu beheben, sodass dies in Zukunft nicht mehr passieren wird. Auch wenn dies ein schwacher Trost ist, hoffen wir auf euer Verständnis und freuen uns, euch bald wieder an einem Konzert begrüssen zu dürfen.
Bei Anmerkungen bezüglich der Security und der Bar bitten wir euch das Komplex 457 direkt zu kontaktieren.
Liebe Grüsse, euer Good News Team