Ein Tod in Raten
Die Rockmusik muss sich von ihren Fesseln befreien. Sie ist eingeschnürt in den klassischen Songstrukturen des Pop.
Die letzte wirklich grosse Band des Rock war Nirvana. Sie kombinierte die Härte des 80er-Metals, die Düsternis des Dark Wave und die «Fuck The System»-Attitüde des Punks und schufen so den Grunge. Sie war ganz oben mit dabei, bis sich Kurt Cobain am 5. April 1994 den Schädel mit einer Ladung Schrot durchlöcherte.
Nach Nirvana kam die erste Indie-Rock-Welle. Sie überschwemmte uns mit starken Bands, zum Beispiel Franz Ferdinand oder Mando Diao, aber auch mit einer Unmenge an seichten Songs. Songs, die mehr Pop als Rock waren. Selbst Oasis, die ultimative Instanz des Britrock, die zweifellos grossartige Hymnen geschrieben hat, ist nüchtern betrachtet nur ein moderner Aufguss der Beatles.
Vom «Mainstream» vereinnahmt
Ich frage mich oft, weshalb es heute keine grossen Rockbands mehr gibt. Überlebensgrosse Gruppen wie die Stones, Led Zeppelin oder meinetwegen auch U2. Lebende Legenden, die noch heute 50 Jahre jüngere Musiker mit einem einzigen Riff an die Wand spielen.
Weshalb geht es mit dem Rock seit Jahren eigentlich nur bergab? In den 1970ern wurden Rockbands richtig gross. Wenn das geschieht, wird die Kommerzialisierung unvermeidbar. Massen wollen angesprochen werden. Es setzt sich ein Kreislauf in Gang: Bekannte Bands werden beworben und so noch bekannter. Das endet oft mit dem Ausverkauf und dem Überdruss. Die Labels wollen sich bis zu diesem Zeitpunkt ein möglichst fettes Stück vom Kuchen abschneiden. Die Konsequenz: der Raum für Experimente wird gestrichen.
Die Musik wird dem mittelmässigen Geschmack der breiten Masse angepasst. Und die will kein Wagnis eingehen, sondern bloss unterhalten werden, vielleicht etwas verruchte, rebellische Luft schnuppern. Doch dieses Image ist längst verflogen. Der Rock wurde vom «Mainstream» vereinnahmt. Seven Nation Army von den White Stripes – eine der wenigen bekannten Bands der letzten Jahre, die den Ausbruch noch wagte – verkam in Rekordzeit zum ballermännischen Gegröle in Fussballstadien.
Heute zählt im Rock die gleiche Maxime wie im Pop-Business: Reichweite und Verkaufszahlen stehen über allem. Die Qualität des Produkts geht vor die Hunde, obwohl sich die meisten Musiker mehrere Jahre Zeit für neues Material lassen. Doch nur ein paar Nostalgiker und «Ewiggestrige» beklagen den Zerfall.
Strukturelles Problem
Die Bands haben einen unverzeihlichen Fehler begangen: Sie haben sich ins enge Korsett klassischer Songstrukturen gezwängt. Intro, Strophe, Refrain, Strophe, dann vielleicht eine Bridge und am Ende Refrain bis zum Fade out. Gierige Manager haben sich bei diesem Anblick geifernd die Hände gerieben und das Korsett mit Freude zugeschnürt.
Die Struktur ist die Wurzel allen Übels. Sie führt dazu, dass die Songs gradlinig in der Instrumentalisierung werden. Ein Gitarren-Solo, die Königsklasse des Rock, fungiert heute höchstens noch als Bridge zum Refrain und ist mehr ein erbärmlicher Abklatsch eines echten Solos.
Die Struktur sorgt auch dafür, dass Songs regelrecht zugetextet sind. Die Stimme nimmt derart viel Platz ein, dass die Instrumente voll und ganz im Hintergrund verbleichen. Das ist exakt der Grund, weshalb keine Kunstwerke wie Stairway To Heaven oder Like A Rolling Stone mehr gibt. Es liegt nicht an Einfallslosigkeit – es gibt auch heute noch grossartige Melodien –, doch sie gehen unter im Schwall der Worte.
Als Rockbands Popstrukturen annahmen, kappten sie die Verbindung zu den Wurzeln ihres Genres; zum Rhythm and Blues, vielleicht auch zum Jazz. Also jenen Stilrichtungen, die den Instrumenten maximale Freiheit gewähren. Ohne diese Freiheit werden Rocksongs austauschbar wie die Hits der Popstars. Oder weiss noch jemand, welcher Song von Rihanna vor drei Jahren aktuell war? Nein, und so verhält es sich auch mit modernen Rock-Formationen.
Auch elektronische Elemente konnten den Rock nicht aus dem Koma befreien. Denn Electronic bedeutet gerade live eine noch stärkere Kanalisierung. Denn die Spuren kommen meist aus der Konserve. Der Fahrplan muss strikt eingehalten werden, Ausbrechen ist strengstens verboten.
Potential ohne Chance
Es wirkt wie ein Armutszeugnis, dass «Klampfen-Götter» beinahe durchs Band versagen. Die wirklichen Experimente finden heute in der elektronischen Musik statt, einigermassen ehrliche Rebellion und Ablehnung irgendwo zwischen Death und Black Metal.
Talente gibt es nach wie vor, herausragende Musikerinnen und Musiker. Doch mit den selbstauferlegten Fesseln gelingt es ihnen nicht, ihr Potential völlig zu entfalten. Dabei ist es heute einfacher als je zuvor, mit digitalen Vertriebswegen Menschen zu erreichen. Ein Label, das die Produktion von Vinyl oder CDs vorschiesst, braucht es nicht mehr.
Der Tod der Rockmusik ist eine elend lange Tragödie, als würde man sich sein eigenes Grab schaufeln. Dabei sollte man den Spaten getrost hinwerfen, sich die Gitarre schnappen und anstatt ins Erdenreich wieder den Blick gen oben richten. Hinauf zum Rock-Olymp, wo immer noch die grauen Greise von vor 40 Jahren sitzen. Hinauf zum Himmel – Stairway to heaven, back to the roots.