«Ständiges Wachstum heisst in der Natur Krebs»

«Ich bin in meinem Leben und in meiner Kunst oft angeeckt», sagt Gabi Delgado. Ein Gespräch über Macht, Provokation und Angst.

«Ständiges Wachstum heisst in der Natur Krebs»
Bild: zVg
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DAF-Sänger Gabi Delgado ist im Alter von 61 Jahren verstorben. Zum Andenken veröffentlichen wir das Gespräch mit ihm 2015 noch einmal.

Gabi Delgado sitzt in Córdoba im heissen Südspanien, als er unseren Anruf entgegen nimmt. Delgado galt mit seiner Band DAF als Pionier und Provokateur. Verschwende deine Jugend oder Der Mussolini haben auch Jahrzehnte später nichts von ihrer Intensität verloren.

Erst letztes Jahr veröffentlichte der 57-Jährige sein Solo-Album Eins. Am 14. August 2015 folgt Zwei – ein opulentes Werk pharaonischen Ausmasses. 32 Songs versammeln sich zu einem «Statement gegen die Sparsamkeit» und zu einem immer wieder kritischen Blick auf die Welt.

«Geiz ist nicht geil und sparen ist nicht schön. Das gilt nicht nur für die Musikbranche, sondern für die ganze Gesellschaft. Diese Mentalität zieht sich durch alle Ebenen, von Kultur über Wirtschaft und Politik bis zu den zwischenmenschlichen Beziehungen.» Delgado setzt der alles durchdringenden Austerität die Grosszügigkeit als adäquate Haltung gegenüber.

«Ausserhalb des eigenen Empfindens hat die Musik wenig Relevanz.»

Spannender als diese Erkenntnis, ist jedoch die Suche nach den Wurzeln gesellschaftlicher Trends. Das Stück Angst thematisiert eine «grosse Angstmaschine» und damit den manipulativen Umgang mit Angstszenarien: «Den Menschen wird zurzeit viel Angst gemacht: Terrorismus, Altersarmut. Das wird gesteigert bis ins Absurde: Vor einigen Tagen habe ich einen Bericht über Mörder-Hornissen gesehen.»

Die Angst ist ein mächtiges Werkzeug, das Menschen unfrei und kontrollierbar macht. Die Kunst müsse die Situation beschreiben, sagt Delgado, doch will er ihr nicht eine allzu einflussreiche Rolle zuschreiben: «Die Kunst – insbesondere die Musik, weil sie wie kaum ein anderes Medium an Gefühle appellieren und Botschaften senden kann – ist in der Lage, Dinge aufzuzeigen und zu kommentieren. Bestenfalls werden Songs zu Hymnen einer Bewegung, aber ich glaube nicht, dass die Kunst Bewegungen auslöst.»

Angst.
Angst.
Islamisten
Aus dem All.
Infektionen
Überall.
Mörder-Bienen.
Meteoriten.
Angst.
Jetzt ist sie da.

Trotz dieser relativen Machtlosigkeit, gebe es zu wenige kritische Stimmen im Musikbusiness. Es sei eine grossartige Möglichkeit, dass die Musik sowohl den Körper ansprechen als auch Emotionen stimulieren könne: «Musik kann Gefühle wecken, verflossene Lieben, bestimmte Gefühlsnoten, Stimmungen und sogar Gerüche aus der Vergangenheit.» Doch diese Eigenschaft führe – wie in jede Kunstform – zu viel Nabelschau: «Ausserhalb des eigenen Empfindens hat die Musik wenig Relevanz.»

Die Angst regiert denn auch im Musikbusiness. «Oh Gott, die Leute laden sich alles umsonst runter. Das ist ganz schlimm, es gibt keine Chance mehr für dich. Du musst jetzt brav und angepasst sein – das wird den Musikern heute gesagt.»

«Wenn man seinen Busen entblösst, ist das längst kein Skandal mehr.»

Wer provoziert, stört. Und doch sind wir die Provokation von Musikern wie Marilyn Manson oder Rammstein gewöhnt. Denn auch der Skandal sei ein kapitalistisches Werkzeug zur Eroberung von Märkten: «Alleine der Name Marilyn Manson – zwei amerikanische Mythen auf diese geniale Weise zusammenzufassen, ist schon etwas Tolles und auf jeden Fall gesellschaftskritisch. Provokation und Kritik schliessen sich nicht unbedingt gegenseitig aus. Ich habe Manson nur am Rande kennengelernt und auch die Jungs von Rammstein kenne ich nicht so gut. Deswegen möchte ich das nicht beurteilen. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass man sich hinsetzt und überlegt, wie man den nächsten Skandal – eben Provokation um der Provokation willen – produziert. Das halte ich für falsch.» Daneben gebe es auch Provokation, die gar keine mehr sei: «Wenn man seinen Busen entblösst, ist das längst kein Skandal mehr. Das kann man in der Nachmittagsshow schon sehen.»

«Wenn Tabus verschwinden, liegt es ganz selten daran, dass der Bereich freier geworden ist, sondern an einem Machtverlust.»

Der Skandal bricht immer ein Tabu und der Tabubruch zieht sich durch Delgados Schaffen, ob bewusst oder unbewusst. Während seiner langjährigen Zeit als Künstler haben sich die Themen, an denen es sich die Finger verbrennen lässt, gewandelt. «Wenn Tabus verschwinden, liegt es ganz selten daran, dass der Bereich freier geworden ist, sondern an einem Machtverlust. Heute kann man sich über Jesus lustig machen wie etwa in Life of Brian. Dafür wäre man vor 500 Jahren verbrannt worden. Heute ist das natürlich undenkbar. Warum? Weil die Kirche nicht mehr dieselbe Macht hat. Ansonsten wären Monty Python garantiert verbrannt worden. Wenn man also wissen will, wo die neuen Tabus sind, muss man beobachten, welche Institutionen Macht verloren und welche Macht gewonnen haben. Seit Thatcherismus und Reaganomics sind es die Finanzsysteme, die sich sogar über Politik, über alles hinwegsetzen. Da sind heute die grössten Tabus zu finden.»

Gabi Delgado
Die grössten Tabus sieht Delgado im Finanzsystem. Bild: zvg

Auf den Scheiterhaufen kommt man nicht, wenn man das perverse Finanzsystem kritisiert. Als Künstler kann man angreifen, provozieren, Tabus brechen. Doch irgendwann dreht sich der Wind: «Nehmen wir an, man verbrennt Geld um zu provozieren, was ja gemacht wurde. Da geschieht wenig. Wenn es aber zu einer Massenveranstaltung wird, wenn es über eine Kunstaktion hinaus geht und 100’000 Menschen die Europäische Zentralbank zerstören oder Banken überfallen würden, um das Geld direkt zu verbrennen, dann würde das System massiv einschreiten. Ich kenne zufällig einen Bankräuber. Für zwei unbewaffnete Überfälle kriegte er zehn Jahre Gefängnis, ohne Aussicht auf frühzeitige Entlassung. Dass man aber für viel schlimmere Verbrechen – Gewalt gegen Menschen, Vergewaltigung, Morde – teilweise mit drei, vier Jahren davon kommt… Daran sieht man, wie stark ein System geschützt wird.»

«Ich bin in meinem Leben und in meiner Kunst oft angeeckt.»

Der Künstler alleine kann also provozieren, bewirken tut er wenig. Das muss frustrierend sein. «Ich habe nie Tabubruch um des Tabubruchs willen betrieben. Ich bin in meinem Leben und in meiner Kunst oft angeeckt. Ich kann mir nicht so viel gefallen lassen. Wenn einer sagt, dass hier nicht geraucht wird und ich das nicht einsehe, rauche ich trotzdem.»

Ein Einzelner vermag wenig auszurichten, doch Delgado betont, dass er eine zunehmende Unzufriedenheit mit der Art, wie die Welt organisiert ist, beobachtet. «Vielleicht ist es noch zu früh, das zu sagen, aber ich glaube es wird eine grosse Protestbewegung entstehen, ganz anders, als wir uns das heute vorstellen können.» Die Anfänge erkennt der Musiker, der mehr zeitgeistiger Philosoph ist, im wiedererweckten Interesse junger Menschen an Politik: «Nicht an Politik der alten Machart, sondern an einer neuen Form der Agitation. Wenn heute ein Einkaufszentrum geplant ist, demonstrieren die Jungen nicht mehr dagegen, sondern starten ein Crowdfunding, kaufen einen kleinen Teil des Geländes, machen dann Urban Gardening und verhindern so den Bau. Diese Politik halte ich für einen der kommenden Trends. Vielleicht findet in drei, vier Jahren ein regelrechter Run auf diese Art der Politik statt.»

«Ich glaube, dass viele Dinge tatsächlich nicht gesagt werden.»

Noch ist es nicht soweit. Das Interesse an Politik und Geschichte spiegelt sich aber im Album Zwei wider. Geschichte ist eine zugespitzte Kritik an der Informationsgesellschaft.

Es wurde mal gesagt,
Geschichte wird gemacht.
Und das ist völlig falsch.
Geschichte wird geschrieben.
Und zwar von den Gewinnern.
Wer kann sich schon erinnern,
Wie’s damals wirklich war.

Die Thematik könnte aktueller nicht sein. Im Zuge der Ukraine-Krise wurden vor allem in Deutschland Stimmen laut, die Medien berichteten zu einseitig. Nun mögen einige dieser Kommentatoren von Russland aus gesteuert sein, doch es sind längst nicht alle. «Ich wohne zwar in Spanien, sehe mir aber die deutschen, englischen und sogar die Schweizer Nachrichten an. Ich erkenne eine grosse Gleichschaltung. Egal, ob du ARD oder Sat1 schaust – alle sagen genau dasselbe. Ich glaube, dass viele Dinge tatsächlich nicht gesagt werden.»

Giesst der Punk Gabi Delgado damit Wasser auf die Mühlen von Verschwörungen? «Nein, es ist sicher nicht so, wie einige Verschwörungstheoretiker annehmen, dass irgendwo Freimaurer-Grüppchen oder Tempelritter sitzen und alles bestimmen.» Heute werde die Welt von Algorithmen gesteuert. Alles wird gesammelt, durch Maschinen interpretiert und Empfehlungen abgegeben, wie man zu reagieren hat. So entstehe dieser Konsens in der ersten Welt: «Zuerst kommt das Geld, später alles andere. Daraus ergeben sich grosse Absurditäten, wie das Streben nach ständigem Wachstum. In der Natur heisst das Krebs. Auf Dauer kann das nicht funktionieren.»

«Es muss roh und lebendig sein.»

Gabi Delgado ist ein Mann, der viel über seine Umwelt nachdenkt. Ein Mann, der hinterfragt und vielleicht gerade deshalb provoziert. Es geschieht unbewusst, es ist schlicht sein Naturell. Seine Texte und seine Musik entstehen gleichberechtigt und unabhängig voneinander. Er habe sich noch nie hingesetzt und sich gesagt, dass er jetzt Texte schreibe. Es sind einzelne Worte, selten ganze Sätze, die in seinem Kopf herumschwirren und gesungen werden möchte. Gemeinsam mit einem Rohbau der Musik entsteht der fertige Text, der verdichtet wird. Schnörkel werden abgeschmirgelt und doch nichts glattpoliert. «Es gibt keinen Schutzlack. Es muss roh und lebendig sein.»

Pionier und Revoluzzer wurde Delgado zu DAF-Zeiten genannt. Schon damals habe er wenig Zeit verschwendet, um über diese vordefinierten Rollenbilder nachzudenken. Nichtsdestotrotz wagt er die Selbstreflektion: «Heute wäre meine Rolle wohl – eine postmoderne Kunstauffassung vertretend – dahingehend definiert, durch eine radikale Mischung verschiedener Stile zu neuen Erkenntnissen zu kommen und zu forschen, was noch nicht zitiert wurde. Das sehe momentan als meine Hauptaufgabe: Forschen und mischen.»