Genesis
2020 feiert das Online-Magazin Negative White sein 10-jähriges Jubiläum. In unserer Serie blicken wir zurück. Im ersten Teil erklärt Gründer und Redaktionsleiter Janosch Tröhler, wie die Plattform ihren Anfang nahm.
Vielleicht naiv, aber ganz sicher planlos. Etwa so lässt sich mein 16-jähriges Ich gut beschreiben. Ich wusste nicht, wie meine Zukunft aussieht oder in welcher Branche ich meine Brötchen verdienen würde. Ich lümmelte halt im Gymnasium vor mich hin, halbmotiviert und pubertär.
In dieser Zeit stöberte ich durch die grenzenlose Schallplatten- und CD-Sammlung meines Onkels. So entdeckte ich Bob Dylan, Led Zeppelin, The Who, die Stones, Sly & The Family Stone, James Brown.
Die Helden seiner Jugend wurden auch die Helden der meinen. Musik wurde Teil meiner Identität – und ich spürte der Vergangenheit nach. Den Songs, die den Sound der Kindheit ausmachten. Paul Simons Graceland, Claptons kongeniales Unplugged-Album oder die frühen Werke von Tanita Tikaram.
Erste Gehversuche
Irgendwie zufällig wählte ich in der Schule das Freifach Schülerzeitung aus. Denn geschrieben und gelesen habe ich immer gerne. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen: Es gibt sowas wie Journalismus; und da kann man mit dem Schreiben Geld verdienen.
Plötzlich hatte ich ein Ziel: Ich will Journalist werden. Doch das Leben ist voller Ironie. Die Schwierigkeiten in der Schule nahmen zu, die Noten wurden schlechter. Ich wiederholte, flog ein Jahr später raus. Da stand ich nun, 18 Jahre, ohne Abschluss und arbeitslos. Der Soundtrack dieser Zeit war düster: The Cure, The Sisters of Mercy, Joy Division, ASP, In Strict Confidence, VNV Nation, Diary of Dreams. Eine schwarzgewandete Rebellion.
Ich schrieb kurze Biographien über Bands für den Fotografen Cornelius Fischer. Es waren die ersten musikjournalistischen Gehversuche. Er machte mich 2008 am Oomph!-Konzert im Toniareal mit Nicole Imhof, die das Online-Magazin Art-Noir betreibt, bekannt. Ich schrieb einige Texte für sie.
Schreiben sollte ich aber vor allem Bewerbungen auf Lehrstellen. Nach und nach verlor ich die Naivität. Niemand wartet da draussen auf mich. Du musst es selbst wollen, dir die Dinge selbst erarbeiten und – wenn nötig – kämpfen. Doch bis zu dieser Erkenntnis sollte es noch einige Monate dauern.
Meine Eltern hatten selbstverständlich keine Freude an meiner Lethargie oder meinem Grufti-Look. Im Frühling 2009 hatten sie dann definitiv genug und schickten mich nach Sulz im Aargau auf einen Bauernhof in den Landdienst. Jetzt musst du dir vorstellen: Ich, im Gothic-Look, bei einer Bauernfamilie, die vor jedem Essen betete. Das war richtig scheisse.
«Lass uns selber was machen»
Die Erlösung kam dann Anfang Sommer. Ich fand eine Lehrstelle als Kaufmann und hatte wieder Struktur im Leben. Zeitgleich fing mein Bruder Nicola an zu fotografieren. Er kaufte sich seine erste Spiegelreflex-Kamera, wollte ebenfalls in die Konzertfotografie einsteigen. Er war es auch, der mich fragte: «Weshalb sollen wir für andere arbeiten? Lass uns selber was machen.»
So steckten wir die Köpfe im Herbst 2009 zusammen. Ein Webzine sollte es werden für die Schweizer Gothic-Szene. Es gibt diesen einen Spruch, der mir im Kopf hängen geblieben ist: Weiss ist auch nur negatives Schwarz. Und so entstand der Name Negative White. Also eigentlich heissen wir «Schwarz», ein perfekter Name für ein Gothic-Webzine.
Die erste Website war ein Graus. Nicola und sein bester Freund programmierten sie komplett von Hand. Die Bedienung im Hintergrund war hirnrissig kompliziert. Ohne Pseudo-HTML-Kenntnisse musste man gar nicht versuchen, einen Artikel online zu stellen.
Die Website ist natürlich schon lange aus dem Netz verschwunden, ebenso die ersten Artikel. Natürlich waren das himmeltraurige Arbeiten, kaum Substanz oder irgendeine messbare Form von Qualität. Es sind geschriebene Sünden, entstanden vor eine gefühlten Ewigkeit.
Wann genau der allererste Artikel erschienen ist, weiss ich leider nicht mehr. Kann sein, dass es im Dezember 2009 war, vielleicht aber auch erst 2010.
Gut möglich, dass es der Bericht über das Konzert von Spencer, der Band des famosen Radio-DJs Leo Niessner. Das ist jedenfalls der erste Text, den ich im persönlichen Archiv gefunden habe.
Organisiert wurde die Show am 12. Dezember 2009 im Zürcher Provitreff von Sacha Saxer, der später lange für Negative White schreiben sollte. Die Fotos stammten von Francesco Tancredi, der noch heute für uns zur Kamera greift.
«Probieren geht über studieren»
Rückblickend war Negative White ein Projekt, das eigentlich nur scheitern konnte. Nicola und ich gingen die Sache völlig ahnungslos an. Kein Wunder, bei einer kombinierten Lebenserfahrung von sagenhaften 19 und 15 Jahren. Doch wir brannten für die Idee, das war wohl die Hauptsache. «Probieren geht über studieren», pflegte mein Schwimmlehrer zu sagen. Das war unsere Devise.
Dass wir oft scheiterten, Fehlentscheidungen trafen – geschenkt. Aber mittlerweile ist Nicola selbständiger Fotograf und ich arbeite im Journalismus. Wahrscheinlich würden wir Negative White heute ganz anders angehen. Ob das Resultat besser wäre: Keinen Schimmer. Unsere Leben und Perspektiven haben sich in der letzten Dekade x-fach verändert.
Die einzige Konstante in den letzten zehn Jahren ist das, was Negative White auch heute noch am Leben hält: Die Leidenschaft für die Musik.