Hände weg vom Regler!
Summer Breeze 2018. Ich stehe vor der grossen Hauptbühne, vielleicht 20 oder 30 Meter entfernt. Mein Körper wird bis aufs Mark erschüttert, als Bloodbath ihren brachialen Death Metal entfesseln. Ein unglaubliches Gefühl. Klang und Schall erzeugen ein Erlebnis, das mich voll einnimmt. Die Nasenflügel beben im Takt mit dem Doublebass, die Nackenhaare stellen sich zum Kreischen der Gitarren auf. Es ist laut, fast schon etwas zu viel. In Deutschland ist das kein Problem.
Bei uns in der Schweiz gibt es diese körperliche Erfahrung von Musik kaum. Wir haben eine der strengsten Lärmschutz-Vorschriften überhaupt. Die Veranstalter müssen je nach Lautstärke diverse Vorschriften beachten: von kostenlosem Hörschutz über Ausgleichszonen bis zu Messungen und gar Video-Aufzeichnungen. Rigoros ist das Regime.
Hurra, hurra, die V-NISSG ist da!
Wer jetzt dachte, dass den Schweizer Behörden nun die Fantasie ausgegangen sei: Oh, du Narr!
Gestatten, die neue Verordnung zum Bundesgesetz über den Schutz vor Gefährdungen durch Strahlung und Schall – kurz V-NISSG – soll im ersten Halbjahr 2019 in Kraft treten. Neu müssen Veranstalter bei verstärktem Schall bereits ab 93 statt 96 Dezibel den Pegel aufzeichnen. Und auch nicht verstärkte Anlässe erhalten ab 93 Dezibel auflagen – zum Beispiel das Konzert der örtlichen Blasmusik.
«Konkret muss jemand, der einen DJ an seiner Hochzeit auftreten lässt oder eine Musikband für das Quartierfest engagiert, künftig die ganze Veranstaltung aufzeichnen», befürchtet Maurus Ebneter, Vertreter des Wirteverbandes Basel-Stadt, in der NZZ. Nicht nur professionelle Veranstalter, die sich das Behördern-Theater schon gewohnt sind, kommen also unter die Räder, sondern bald auch Private.
«Pssst, das ist ein Metal-Konzert…»
In der Schweiz gilt ein maximaler Stundenpegel von 100 Dezibel. Wer sich also heute bereits über schwafelnde Konzertbesucher aufregt, der kann sich auf V-NISSG wahnsinnig freuen. Denn die Messungen müssen mit einem professionellen und vor allem teuren Gerät gemacht werden. Kleinere Veranstalter können sich diese Investition kaum leisten und werden daher – staatlich verfügt – den Regler runterschrauben. Auf Kosten der Stimmung. Dann nervt das Gequassel nicht nur an leisen Singer-Songwriter-Abenden, sondern auch an Rock- und Metal-Konzerten.
Mit Verlaub: Das ist irrsinnige Bevormundung. Natürlich ist Lärmschutz wichtig, natürlich ist es super, dass es an jedem Konzert kostenlosen Schutz gibt, und dass man sich immer mal wieder in die Ausgleichszone begeben kann. Aber letztlich sind alle Besucherinnen und Besucher freie Menschen, die selbst entscheiden können, ob sie sich schützen wollen oder nicht.
Werden die Konzerte noch leiser, dann bleibt nicht nur die Atmosphäre auf der Strecke, sondern womöglich auch einige Bands. Denn die werden sich hüten, wenn sie wissen, dass ihr Sound erst ab einem gewissen Druck die volle Wirkung entfaltet.