Ein Wechselbad der Triebe
Am Mittwoch konnte man Lindemann live in der Samsung Hall in Dübendorf erleben; was mit vielen vorgängigen Erwartungen verbunden war.
So ziemlich jeder kennt Lindemanns Frontmann Till, der auch bei Rammstein den Ton angibt. Da ist es beinahe unmöglich, Lindemann nicht mit Rammstein zu vergleichen. Nicht zuletzt, weil sowohl Vocals, als auch Outfits und Instrumentals stark an die Neue-Deutsche-Härte-Band erinnern.
Der Einfluss der schwedischen Metal-Band Pain, deren Mitglieder den grösseren Crew-Anteil bei Lindemann ausmachen, ist kaum spürbar. Eine Besucherin meinte sarkastisch: «LM bringe wohl all das, was R+ nicht wollte.»
«Rammstein-Kenner sollten wissen, worauf sie sich einlassen.»Lindemann-Gast
Ein anderer Gast fand es zu Mitte des Spektakels noch zu wenig heftig. Im Vorfeld wurde viel versprochen. Konnte man doch erst als Volljährige*r ein Ticket erwerben und wurde rund um die Show ein grosser Hehl gemacht. Sie solle «härter» sein als Rammstein.
Ein weiterer Zuhörer kommentierte jedoch am Ende des Events, dass man das Konzert durchaus auch für 16-Jährige zulassen könne. Schliesslich habe doch jeder pubertierende Teenie schon ein mal eine Vagina auf einer Leinwand gesehen. «Heftiger war es nun wirklich nicht, oder?»
Lindemann versus Rammstein
Sind wir schon zu anspruchsvoll? Klar ist, dass die Erwartungen an Lindemann von Erfahrungen aus Rammstein-Besuchen zeugen.
Isoliert man aber Tills Neuschöpfung von den nunmehr international etablierten NDH-Rockern, so fällt eine Interpretation des Dargebotenen alles andere als leicht.
Wie sind die Bilder von «singenden Muschis» auf Grossleinwand zu verstehen? Wozu werden rohe Fische ins Publikum geschmissen und welche Einstellung zu Frauen soll uns vermittelt werden? Sucht man womöglich vergebens nach verstecktem Sinn in den Songs?
Jubel für Mumu-Chor
Lindemann ist definitiv provokativ, die Darbietung sowohl musikalisch als auch theatralisch hart (kommen doch sowohl Instrumente als auch Inventar zu Bruch) und die Videoprojektionen von Sex mit fetten Weibern, der Völlerei frönenden Fritzen, oder Pillenzäpfchen-Nahaufnahmen zwingen geradezu zum voyeuristischen Hin-und-Wegkucken.
Aber wo man bei Rammstein noch unterschiedliche, teils vielschichtige Messages herauslesen kann, ist Lindemann nur noch ein Feuerwerk aus Lüsternheiten und Laszivitäten, bleibt aber – zumindest in weiblichen Augenzeugenaugen – oberflächlich und pervers. Doch ist daran was falsch?
Für andere BesucherINNEN wurde gerade durch diesen offenkundigen Sexismus das Konzert zu einem gelungenen Mittwochabend-Programm. «Geil, geil, geil», hörte man es auch schon während der Show von allen Seiten – auffälligerweise allerdings vorwiegend aus Männermündern.
Pro Publica
So oder so war Lindemann eine Performance für die Besucher. Während man sich am letztjährigen Rammstein-Konzert darüber mokiert hatte, dass Grossleinwände fehlten, um die Show auch in den hintersten Reihen noch gut mitzubekommen, hatte Lindemann alles daran gesetzt, dass man auch auf den hintersten Rängen der Samsung Hall sowohl die gezopften Bandmitglieder als auch Till in seinem weissen Sakko gut sah – dank hochfahrendem Podest oder in crowdsurfender Seifenblase.
Die Akustik hingegen liess (un)glücklicherweise zu wünschen übrig; konnte man die Lyrics oft nicht wirklich verstehen. Lediglich das Basssolo von Peter Tägtgren während des Songs Cowboy war eine hörenswerte Besonderheit.
Ästhetische Überraschung
Mein persönliches Highlight fand jedoch noch vor Lindemann statt. Hatte ich doch bei meiner Freizeitplanung zu Gunsten von Lindemann auf das Aesthetic Perfection-Konzert im Oxil in Zofingen verzichten wollen, war ich doppelt und dreifach überrascht, dass Aesthetic Perfection neben Jadu die auf dem Ticket nur als «Special Guests» angekündigten Vorbands waren!
Und die dreiköpfige Aggrotech-Band stand dem Headliner in nichts nach. Somit konnte ich mindestens zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Hier zeigt sich: Es lohnt sich, über den literarischen Tellerrand beziehungsweise Kalenderrand hinauszulesen.