«Ich bin ein kleiner Junge, der nicht durchdefiniert werden will»
Der Pianist Martin Kohlstedt ist auf gewisse Weise der Punk der Neo-Klassik. Ein Künstler, der sich Schubladen, Konzepten und Routinen entziehen will. Eine Annäherung.
Es ist eine puristische Atmosphäre, die rund 130 Menschen in der Kaserne Basel erwartet. Kein extravagantes Lichtspektakel wird die Aufmerksamkeit heischen, keine opulente Dekoration das Auge ablenken. Auf der Bühne sind die Instrumente von Martin Kohlstedt, ein Flügel und diverse elektronische Apparaturen, ebenso fokussiert angeordnet wie die Stuhlreihen des Publikums.
Martin Kohlstedt, 31-jährig, Ausnahmepianist. Er selbst würde diese Bezeichnung verabscheuen, obwohl sie stimmt. Denn er ist die Ausnahme der Konformität, die heute in der Neo-Klassik herrscht.
Zwei Stunden vor dem Konzert sitzt er im Eingangsbereich, auf einem Sofa, aber nie ganz still. Immer wieder lehnt er sich vor und zurück, blickt in die Ferne und ist doch ganz im Moment. Mit einem feinen Lachen sagt er: «Man kann schon sagen, dass ich ein wenig Punk im Herzen bin. Es ist schon Revolte.» Und er erzählt, wie er sich als Gast bei Klassik-Radios lieber Ostrock wünscht als irgendwas Geniales aus der alten Zeit. «Ich bin ein kleiner Junge, der nicht durchdefiniert werden will», meint Kohlstedt.
Wortlos betritt Kohlstedt die Bühne, lächelt kurz den Menschen zu, nur um ihnen darauf den Rücken zuzukehren. Ein ungewohnter Anblick, doch unterstreicht er die fundamentale Überzeugung: Die Musik ist wichtiger als seine Person.
So beginnt er das Spiel zaghaft, als ob er die Zehenspitze ins Wasser streckt um die Temperatur zu fühlen. Immer wieder sind in seinen Kompositionen vertraute Fragmente auf, die man von den Aufnahmen kennt. Sie tauchen auf, verschwinden wieder, verschmelzen wie eine Landschaft, die vor dem Zugfenster vorbeirast und das Auge nur selten Fokus findet. Bisweilen münden seine Fusionen in seltsam bizarren Formen. Experimente avantgardistischer Natur, die sich jegliche Schubladisierung entziehen.
Zahnräder im System
Martin Kohlstedt wuchs in Thüringen auf einem Bauernhof auf. Sein Vater arbeitete in der Forstwirtschaft. In einem Interview mit ZEIT Campus bezeichnete er sich als «Waldkind». Kürzlich kündigte er an, dass er einen Quadratkilometer Land erworben habe. Für jedes verkaufte Konzertticket pflanze er darauf einen Baum. Wer Kohlstedt verstehen will, muss auch die Natur verstehen. «Meine gesamte Erziehung fand in enger Verbindung mit der Natur statt. Nicht im menschlich-esoterischen Sinne, sondern sehr funktional», meint er.
Kohlstedt hat in der Vergangenheit bereits gemeinnützige Projekte unterstützt, mit Flüchtlingen gearbeitet. Doch dass dabei nur der Mensch immer weiter gefördert wurde, lag ihm auf dem Magen. Das Bauchgefühl sagte ihm, er müsse etwas für das schwindende Verhältnis zwischen Natur und Mensch tun: «Wir benutzen alles, was wir bekommen haben und geben nicht genug zurück.» Kohlstedt berechnet seine eigene Verantwortung in der Thematik. «Wenn man mal in den Flieger steigt oder viele Kilometer für ein Konzert fährt, ist es wichtig und richtig, eigentlich eine Pflicht, dass man sich ausgleicht.»
Doch das Wald-Projekt ist mehr als Ausdruck des schlechten Gewissens. Für Kohlstedt hat der Wald schon fast etwas Göttliches: «Der Wald ist für eine Instanz, die mich immer wieder in ein Verhältnis setzt. Je mehr sich der Mensch in kleinere Kosmen zusammenschraubt, desto wichtiger wird alles mögliche. Im Wald, in diesem ganzen Wesen, ist man aber eingebettet als einzelnes Zahnrad eines grösseren Systems. Ich sehne mich nach dem Gefühl, in einem System zu spielen, in dem es keine Hierarchien gibt. Natürlich gibts das Fressen und Gefressen-werden, aber das ist etwas Funktionales. Alles ist für alles da.»
«Irgendwann hat sich die Elektronik eingemischt, hat sich fast wie eine Bedrohung von der Seite eingeschlichen, hat alles in Frage gestellt»
Zahnräder in einem grösseren System – so könnte man auch Martin Kohlstedts Stücke beschreiben. Es sind mehr Fragmente, Skizzen und Ideen, die er live als Rohstoff braucht, synthetisiert und neu zusammenfügt. Auf der Bühne ist er kein Pianist mehr – zumindest nicht im klassischen Sinne. Er ist ein Wanderer, ein Entdecker in seinem eigenen Klangkosmos, der konstant auf der Suche ist. Kohlstedt bezeichnet seine Lieder, die jeweils mit drei Buchstaben benannt sind, als Vokabular: «Es gibt die alten Piano-Stücke, das sehnsüchtige Vokabular einer Zeit, wo man noch nicht genau wusste, sondern eher geträumt und geschossen hat. Irgendwann hat sich die Elektronik eingemischt, hat das alles real gemacht, hat sich fast wie eine Bedrohung von der Seite eingeschlichen, hat alles in Frage gestellt.»
Dieser kontrastreiche Diskurs ist für ihn die Energiequelle, die ihn antreibt, sein Vokabular immer weiter zu kultivieren. «Es gibt Stücke, die fallen links und rechts runter, andere wachsen weiter mit und sind weiterhin wichtige Argumente eines 31-Jährigen, der irgendwie an Zweifeln erstickt. Ich kann keine absoluten Aussagen tätigen.» Manchmal spiele er komplett freie Stücke, die dazu verurteilt seien, vor den Baum zu gehen, meint er. «Man provoziert einfach weiter die Grenzen aus. Wenn die Sache akzeptiert und durchgearbeitet ist, merkt man auch, wie das Stück fast verwelkt. Dann geht es aber anders weiter, hat eine andere Form, kriegt drei neue Buchstaben – wie eine Programmiersprache – zugeteilt und bleibt weiter offen.»
Die Improvisation ist das Schmiermittel seiner Konzerte. Oft sitzt er zwischen seinen musikalischen Entdeckungsreisen da, schaut suchend auf seine Instrumente. Er weiss nicht exakt, wie und wo es weitergeht. Da existiert keine Setlist, kein fertiges Programm. Kohlstedt geht mit dieser Ungewissheit offen um. Nach seiner ersten Improvisation wendet er sich ans Publikum, erzählt, dass die Synthese ziemlich oft schiefgeht. In diesem Moment spürt man, wie die Anspannung im ganzen Raum abfällt. Es ist, als ob der Seiltänzer Kohlstedt nun ein Fangnetz unter seinem Seil aufgespannt hätte. Nun tanzen Ideen vor den Ohren, umzingeln sich und raufen miteinander. Feine Engelstritte prallen auf dämonische Bässe.
Nur einmal fällt Kohlstedt in Basel in sein Fangnetz, nachdem er «viel Munition verballert» hat in einem seiner epochalen Fanale. Nun greift er zum Stück, das nicht recht in sein Universum passt, weil es komponiert ist: VET.
Kindliche Intuition
Das Scheitern äussert sich bei Martin Kohlstedt aber auch durch harte Schnitte. Er hat keine Skrupel, ein Stück einfach abzubrechen. Dahinter stecke das hässliche Wechselspiel zwischen Bewusst- und Unterbewusstsein. «Als ich mich als 12-Jähriger ans Klavier setzte, hat die Intuition gesiegt. Dieses Instrument verlangte nach nichts. Es gab keine Hierarchie, niemanden, der einem über die Schulter guckte. Ich habe komplett frei entwickelt, ohne dass nur ansatzweise ein nächster Schritt berechnet wurde.» Mit jeder Faser versucht Kohlstedt zu dieser kindlichen Intuition – man möchte sagen: Unschuld – zurückkehren. Denn diese ging verloren, nachdem er Klavierunterricht nahm. «Plötzlich wird das Vokabular von aussen betrachtet. Man wird natürlich schneller und virtuoser, versteht Genre und beginnt die Dinge zu mixen. Aber man spürt auch, dass man sich parallel von einem Gedanken, die Dinge einfach nur zu spielen, entfernt.»
Martin Kohlstedt sehnt sich nach einer einfachen, fliessenden Bewegung. «Gleichzeitig merkt man, dass ständig das Bewusstsein eine kleine Panikbremse ziehen will. Es flüstert ‹Ah, du musst jetzt langsam zu einem Ende kommen› oder ‹Oh, das ist ein Album, bring das in Form›», meint er. «Das Wechselspiel zwischen diesem einfachen Klang, der eigentlich sein will, wie er ist, und die ganzen Grenzen, die man sich den ganzen Tag steckt. Diese Ambivalenz ist ein unglaublicher Antrieb, immer weitere Variablen lose zu lassen und ein fast hundertprozentig freies Konzert zu erstreben, wo man nicht auf ein Ende hinspielt.»
«Das versehentliche Anhalten oder das Scheitern darf nicht zum Konzept werden»
Auf der Bühne entblösst sich Kohlstedt vollständig. «Wenn man in der Elbphilharmonie mittendrin ein Stück anhält und 2500 Menschen erschrocken einatmen, wäre das für jede klassische Karriere das Ende.» Die Zeitungen würden einen zerfetzen, ist er überzeugt. «Das eigentliche Problem daran: Was ist dieser Pseudo-Perfektionismus, der von der Elite der Klassik in dieses Genre reingepresst wurde?» Mit der heutigen Welle der Neo-Klassik reitet der Genie-Komplex mit. Alle fordern neue Meister, die Next-Mozarts. «Da will ein Crémant geschwenkt werden und man möchte sich geil fühlen», lästert Kohlstedt. Hier fungiert sein öffentlicher Umgang mit dem Scheitern als Spiegel der selbsternannten Elite, der Unsicherheit und schmerzhaften Zweifel reflektiert. Er agiert aus der tiefen Überzeugung heraus, dass nur da, wo Diskurs wartet, wo Reibung herrscht, auch die Entwicklung stattfindet.
Gegen die Routine
Das Unkonventionelle in Kohlstedts Arbeit wurde längst entdeckt, sonst würde er nicht in den prestigeträchtigsten Sälen der Welt spielen. Gleichzeitig sei dies eine Bedrohung. «Ich muss weiterhin aufpassen, dass ich nicht wie ein Pokal hochgehoben werde. Ich muss die Erwartungshaltung schnell brechen, vor allem in klassischen Häusern oder Kirchen.» Dafür zieht er das ganze Vokabular zur Hilfe – die Floskeln, die wie Bach oder Techno klingen, aber auch Freies und Dissonantes. «Nur so kontern sich die ganze Zeit kindliche Sehnsüchte mit 1000 Formaten und Aspekten, die sich gegenseitig bedingen. Das ist ein dauerhaft bewusstes Ablegen der Routine, an der man selbst Schuld hat. Es ist die linke Gehirnhälfte, nicht die Leute da draussen, nein, ich verlange scheinbar irgendwas davon.»
Das plötzliche Abbrechen eines Stücks kam versehentlich, erzählt er weiter. Sobald er etwas aus der Erinnerung spiele, halte er an. Allerdings: «Dann kommt aber – und das ist ein wichtiger Punkt – die linke Gehirnhälfte wieder und bemerkt, dass es den Leuten gefällt. Und schon verarschst du dich wieder selbst, schon erzwingst du wieder Grenzen eines Stücks und versuchst es an ein Ende zu bringen, wo du nicht mehr weiterweisst. Man muss die ganze Zeit aufpassen, dass nichts davon fest wird. Selbst das versehentliche Anhalten oder das Scheitern darf nicht zum Konzept werden.»
Martin Kohlstedt ist ein unruhiger Mensch, getrieben vom Prozess, auf der Jagd nach der Perfektion der Unvollkommenheit. Einer, der sich auf das Ganze fokussiert, damit der Status Quo nicht zum Standard wird, und dafür viel Geld für die jahrelange Begleitung durch einen Filmer und Fotografen ausgibt. Routine bedeutet Belanglosigkeit. Und Belanglosigkeit ist der Tod. Dagegen kämpft Martin Kohlstedt jedes Mal aufs Neue.