Radikale Reduktion
«The World Is Going On», die neue Single von The Beauty of Gemina, offenbart, was der Band im Kern zugrunde liegt.
The World Is Going On. Die Welt dreht sich weiter. Vielleicht ist es Zufall, vielleicht gutes Timing, vielleicht aber auch Schicksal, dass die neue Single von The Beauty of Gemina diesen Titel trägt. Jetzt, in dieser ausserordentlichen Lage, veröffentlichen sie eine Ode an die Solidarität.
The World Is Going On ist zugleich ein erster Eindruck von Skeleton Dreams (4. September 2020). Die Band entbehrt hier nicht einer gewissen Ironie. Das Stück ist reduziert auf das minimale, musikalische Skelett. Eine Stimme, eine Gitarre. Die Songs auf dem akustisch dominierten Album Flying with the Owl wirken dagegen obszön opulent.
Die entscheidende Frage ist jedoch: Was ist The Beauty of Gemina?
Wer die Band und ihre Musik in der Gesamtheit erfassen und verstehen will, muss die Geschichte kennen. Denn ist eine Beispielslose.
Es war 2006, als Michael Sele mit der Band ins Rampenlicht trat. Die erste Single Suicide Landscape wurde zum Welthit – wenigstens in der Gothic-Szene. Es war der Urknall dessen, was später als «Gemina-Sound» ein prägnantes Label erhielt.
Sele zementierte diesen Sound auf drei Alben. Ein Sound, geprägt durch meterdicke Wände, undurchdringbar. Geprägt durch Repetition, vor allem in den Lyrics, die dem Sound eine psychedelisch-rituelle Aura verlieh. Omnipräsent die melancholische Grundstimmung. Kein Wunder avancierten The Beauty of Gemina zur Speerspitze der Schweizer Wave- und Gothic-Szene.
Das vierte Album Iscariot Blues (2012) markiert rückblickend einen ersten Bruch mit der Klangwelt. Songs wie Badlands oder Stairs liessen durchschimmern, was geschehen würde. Nur damals realisierte es niemand, vielleicht nicht einmal die Band selber. Und vielleicht würden The Beauty of Gemina heute noch so klingen wie vor einem Jahrzehnt, hätte man 2013 aus der Geschichte gestrichen.
Zerschmettert in Stücke
The Myrrh Sessions. Kein vernünftiger Mensch hätte geglaubt, dass sich der «Gemina-Sound» ins Akustische übersetzen liesse. The Beauty of Gemina taten es trotzdem – und unter den Fans gilt das Album noch immer als Juwel. Viele realisierten: Hier sind echte Talente am Werk. Gleichzeitig wurde der Mythos, was der «Gemina-Sound» ist, zerschmettert.
Richtig wahrhaben wollte es die Band nicht. Auf Ghost Prayers (2014)und Minor Sun (2016) klangen sie oft unentschlossen. Irgendwo verloren zwischen der alten Extravaganz und der neu entdeckten Welt der Akustik. Es sind zwei ambivalente Sammlungen mit Höhenflügen, aber auch mit Tauchgängen.
Auf Flying with the Owl (2018) war dann klar: The Beauty of Gemina war nicht mehr jene Band, die 2006 aus den Schattenlanden emporstieg, um Düsternis zu verbreiten. Die Akustik hat den langwierigen Kampf gewonnen.
Simple Addition
Zurück zur Frage, was The Beauty of Gemina eigentlich ist. Es ist schlicht das Manifest eines Mannes mit drei Herzen in der Brust: Michael Sele. Ein Mensch, der die Klassik liebt, der mit Folk, Country und Americana aufwuchs und im Wave und der Gothic-Szene seine seelische Heimat fand.
Der «Gemina-Sound» war niemals nur dieses undurchdringliche Dickicht an Lines aus den frühen Jahren. Er war auch niemals die Akustik um die Akustik willen. Zurückgeworden auf die nackte Existenz ist der «Gemina-Sound» die simple Addition der drei Herzen. Das Fingerspitzengefühl der Klassik, die Ehrlichkeit des Folks und die Melancholie des Waves.
Die Musik von The Beauty of Gemina bewegte sich stets im Spannungsfeld dieser Pole. Immer wieder zog der eine oder andere etwas mehr an. The Wold Is Going On offenbart dies durch radikale Reduktion. Feinfühlig spielt der Song mit den Stimmungsbildern; nachdenklich in der Strophe, hoffnungsvoll im Refrain. Die Pulse der drei Herzen schlagen ruhig, aber synchron. Vollkommen entblösst, liegt der Song perfekt zwischen den Polen. The World Is Going On ist das, was The Beauty of Gemina im Kern ausmacht.