«Die meisten Musiker spielen live, weil sie müssen – nicht weil sie wollen»

Der blinde amerikanische Gitarrist und Sänger Raul Midon kommt für einen Soloauftritt nach Zürich. Im Interview sagt er, weshalb ein Musiker nicht ständig «I love you» singen kann, was Geschichten in der Musik bedeuten – und weshalb er nicht so gerne tourt.

«Die meisten Musiker spielen live, weil sie müssen – nicht weil sie wollen»
Bild: zVg

Raul Midon, du wirst oft als Gitarre spielendes Einmannorchester bezeichnet. Jetzt hast du einige deiner alten Songs mit einem echten Orchester aufgenommen. Weshalb?

Eigentlich war das kein lang gehegter Wunsch und auch kein von langer Hand geplantes Unterfangen. . Ehrlich gesagt fädelte meine Frau, die auch meine Managerin ist, alles ein und gleiste die ersten Absprachen auf. Das war ein bisschen ihr Baby.

War dir rasch klar, wie du deine Songs umbauen musst, um sie orchestertauglich zu machen?

Nicht bis wir mit den Aufnahmen begannen. Mein Produzent Vince war die treibende Kraft. Er ist einer der genialsten Arrangeure der Welt. Ich hörte vor allem auf ihn.

Und ist das Resultat so, wie du es dir vorgestellt hast?

Teils sogar besser. God’s Dream etwa hätte ich mir niemals so bedeutsam vorgestellt, wie es jetzt mit diesen Texturen und Detailsauf dem Album zu hören ist. Generell stellte ich fest, dass das Orchester insbesondere für die Balladen einen Mehrwert darstellt. Da tat sich mir schon eine Art neue Welt auf.

Du musstest aber mit dem ganzen orchestralen Klangteppich vermutlich ganz anders Gitarre spielen.

Das stimmt. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob du alleine oder von vielen anderen Instrumenten umgeben bist. Ich eliminierte etwa sämtliche Bassnoten und spielte auch sonst viel zurückhaltender.

Hat das Orchesterprojekt deine Herangehensweise ans Songschreiben irgendwie verändert?

Ja, ich denke schon. Jedes Projekt ändert in dir etwas und bringt dich irgendwie weiter. Für mich hat das Orchesterprojekt meine Einstellung zu Balladen verändert. Ich habe Wege entdeckt, wie Balladen tiefer, lebendiger werden – mit einem cineastischen Ansatz, dem ich viel abgewinnen kann. Da ist die Melodie, die Rhythmik, der Text. Wie kann ich daraus eine bildreiche Geschichte machen? Für mich ist so auch der rein technische Aspekt meines Gitarrenspiels etwas in den Hintergrund gerückt. Es geht um Geschichten, nicht um Virtuosität.

Ist das nicht auch eine Erkenntnis, die häufig mit dem Alter kommt?

Absolut. Will man sein Leben ganz der Musik widmen, kann man nicht permanent «I Love you» singen. Man muss sich weiterentwickeln, neue Themen finden.

Ich habe gelesen, dass du parallel zum Orchesteralbum bereits eines mit neuen Songs geplant hast, das eigentlich dieses Jahr erscheinen sollte. Was ist damit?

The Mirror kommt am 13. März 2020 heraus.

Worum geht es?

Auf dem Album sind – kaum überraschend – mehr Balladen. Ich habe die Songs mit drei verschiedenen Bands aufgenommen. Ein Teil der Songs ist relativ jazzig, ein anderer hat diesen Back Beat wie auf dem Album Bad Ass ans Blind. Ich habe keine Covers aufgenommen, nur originale Midon-Songs. Und es wird zwei gesprochene Gedichte von anderen Autoren geben, die ich mit Musik unterlegt habe.

Weshalb hast du drei verschiedene Bands bemüht?

Eine verkörpert das klassische Jazz-Trio, inklusive Piano. Ich wollte ein Klavier auf einigen Songs, weil es ihnen eine andere Dimension verleiht. Die zweite Band ist eine meiner Standard-Formationen, mit denen ich immer wieder spiele. Die dritte Band kommt aus der Stadt, in der ich neuerdings lebe. Es sind drei Trios aber mit unterschiedlichen Ausprägungen. Dazu kommen diverse Gesangspartnerinnen und -partner.

Beispielsweise?

Eine ist Janis Siegel von Manhattan Transfer. Ganz ehrlich: Jazz-Gesangsgruppen gehören zu den meistunterschätzten Musikformationen.

Das heisst, dein neues Album ist auch ein Gesangsalbum?

Grundsätzlich war jedes meiner Alben ein Gesangsalbum. Aber es stimmt insofern, als dass ich seit State of Mind nicht mehr mit Backing-Sängern gearbeitet habe. Das ist schon ein hübsches Upgrade auf dem neuen Album.

Wie tourst du aktuell?

Solo.

Gefällt dir das besser als mit Band?

Kommt drauf an. Ich liebe es, solo zu touren, weil ich dann flexibler bin und mehr Geld verdiene. Das ist ein wichtiger Faktor, seit Musiker mit Alben kein Geld mehr machen können. Trios werfen schon viel weniger ab. Ein Orchester könnte ich mir niemals leisten, es sei denn, ich würde so bekannt wie Taylor Swift.

Ist das frustrierend für dich?

So ist nun mal das Geschäft. Wenn jeder jede Musik gratis kriegt, gibt’s keine andere Einnahmequelle mehr als das Live-Konzert.

Aber du scheffelst bei Spotify schon auch ein bisschen Geld.

Ja klar, aber keine grossen Mengen. Spotify hat andere Vorzüge. Man sieht, wo die Streams herkommen und wie sich das Publikum zusammensetzt.

Also frustriert dich das Musikbusiness nicht?

Ein bisschen schon. Aber man muss sich halt anpassen und schauen, dass man irgendwie mit der Situation zurechtkommt.

Die Beatles mussten gar nicht mehr touren… Aber Musikfans wollen Live-Konzerte.

Ich behaupte, die meisten Musiker spielen live, weil sie müssen – nicht weil sie wollen. Das schlägt sich auf die Qualität der Shows nieder.

Geht dir das auch so?

Ja. Ich liebe es, Songs zu schreiben. Ich liebe es, Songs aufzunehmen. Auf der Bühne zu stehen, liebe ich deutlich weniger. Aber ich muss halt, weil ich von der Musik leben können will.

Was ist denn so schlimm am Touren?

Das Reisen ist wirklich keine angenehme Sache. Heute bin ich in Portugal, morgen spiele ich in Dortmund. Dazwischen muss ich zwei verschiedene Flüge nehmen und um 4 Uhr morgens aufstehen, um das Flugzeug zu erwischen. Das macht keinen Spass.

Hast du wenigstens deine Familie dabei?

Nein, auch nicht. Meine Frau managt mich von zu Hause aus. Ich muss sagen: Diese Tour ist jetzt auch besonders lang – acht Wochen am Stück. Sonst sind es eher drei oder vier Wochen. Das ist erträglicher und gibt mir mehr Spielraum, Dinge zu tun, die mir besser gefallen als das Touren.

Aber fühlt es sich wenigstens gut an, wenn du dann vor Ort Feedback vom Publikum bekommst?

Klar, das ist schon toll. Zu merken, dass da draussen Leute sind, denen meine Musik etwas bedeutet,  geht mir immer wieder unter die Haut. Das ist viel wert.

Was wirst du in Zürich spielen?

Viele neue Songs vom kommenden Album. Das Ziel ist auch, das Publikum sozusagen zu befragen, was ihm davon gefällt. Aber natürlich spiele ich auch die alten Lieder, für die viele Fanskommen. State of Mind werde ich bis zu meinem Tod spielen. Der Song wird mir niemals verleiden.