The Beauty of Gemina – Crossroads
The Beauty of Gemina finden mit «Crossroads» den neuen Gemina-Sound. Die Single vereint die alte Dichte erstmals gelungen mit der akustischen Facette.
Es ist 25 Jahre her, seit der mittlerweile verstorbene Musiker Calvin Russell den Song Crossroads veröffentlichte. Der Texaner, der seinen Lebensabend im Wallis verbrachte, hatte mit dem von Saylor White geschriebenen Stück eine rohe und einnehmende Roots-Ballade erschaffen.
Seit zwei Jahren, seit dem Release von Ghost Prayers warten die Anhänger der Schweizer Band The Beauty of Gemina auf neues Material. Mit Minor Sun, das im September erscheinen wird, folgt das sechste Studioalbum.
Und heute kreuzen sich die Wege von Calvin Russell und Michael Sele, dem markanten Kopf von The Beauty of Gemina. Denn für tatsächlich neues Material müssen die Fans immer noch bis September warten. Stattdessen hat sich Sele dem Song Crossroads angenommen und als erste Single aus Minor Sun auserkoren.
Nun könnte man das als eine Unverschämtheit abtun. Doch wer The Beauty of Gemina kennt, weiss spätestens seit dem Talking Heads-Cover Listening Wind, dass Sele und seine Mitstreiter mit viel Herz und Verstand sich fremde Federn zu eigen machen können.
Dieses Fingerspitzengefühl ist essentiell, denn Coverversionen sind ein zweischneidiges Schwert. Entweder stossen sie direkt in das Herz des Hörers oder man strauchelt und fällt selbst in die Klinge.
Glücklicherweise ist Sele ein geschickter Songschmied. Er hat das rohe Crossroads Russells genommen, geschliffen und poliert, bis darunter ein schwarz schimmernder Obsidian hervorkam. Was bei Ghost Prayers mal besser, mal schlechter begonnen wurde, setzt sich in Crossroads unüberhörbar fort: eine Verwischung jeglicher Genregrenzen.
Wege, Kreuzungen, Grenzübertritte – The Beauty of Gemina stehen nach zehn Jahren am Scheideweg. Mit dem kommenden Album touren sie durch sieben Länder. Crossroads steht stellvertretend für die Zukunft. Doch da schwingt Zweifel mit, ein dunkler Hauch, wenn Sele singt:
I’m standing at the crossroads
There are many roads to take
But I stand here so silently
For fear of a mistake
One road leads to paradise
One road leads to pain
One road leads to freedom
Das adaptierte Crossroads ist eine sanftmütige Wave-Ballade geworden. Überzeugt zeichnet die akustische Gitarre den Weg vor, schlingernd sucht die Elektronische nach Anhaltspunkten, ob dieser vorbestimmte Weg auch tatsächlich richtig ist. Der Song erinnert an One Million Stars. Seles Stimme an die Verschleifungen in Dancer On A Frozen Lake.
Doch all diese Formalitäten und Vergleiche lenken von der einen Tatsache ab, die Crossroads zu einem Triumph werden lassen: Der erste Song des neuen «Gemina-Sounds».
The Beauty of Gemina wurden mit Suicide Landscape auf einen Schlag bekannt. Geliebt für den düsteren Sound, der so dicht, so undurchdringlich war, dass man mit jedem Hören neue Facetten des Songs entdecken konnte. Monsters In Me, In Your Eyes oder Dark Rain sind Beispiele dieses – wie Musikjournalist Greil Marcus es beschreibt – «totalen Sounds».
Du kannst wissen, dass, für dich, ein bestimmtes Wort, ein gewisser Teilsound tief im Innern des Gesamtsounds, das ist, was du hören möchtest; du kannst dir fest vornehmen, alles andere in dem Song beiseite zu schieben in Erwartung des Teils des Songs, den du hören möchtest. Doch das klappt nie.
— Greil Marcus
Doch nach dem zweifelsfrei grossartigen akustischen Ausflug kam mit Ghost Prayers ein Album, das polarisierte. Eine Transition war im Gange. The Beauty of Gemina suchten nach dem neuen «Gemina-Sound».
Mit Crossroads verbinden sie ihre anfängliche Undurchdringlichkeit und die akustischen Elemente erstmals mit einer Überzeugung. Im Refrain öffnet sich das zuvor simple Arrangement. Es explodiert gerade zu in einer beinahe überfordernden Gewalt. Eine Knospe, die sich plötzlich öffnet und ihre Blütenpracht offenbart. Und man ist so fasziniert von diesem Anblick, dass keine Zeit bleibt, die Blume genau zu untersuchen, die Anordnung ihrer Blätter zu studieren. Denn die Wolken der Strophe verdunkeln den Himmel und das Arrangement zieht sich wieder zur unspektakulären Knospe zusammen.
Wer Crossroads begreifen will, der muss den Weg kennen, den The Beauty of Gemina bereits zurückgelegt haben. Die schmutzigen Schuhe deuten auf einige Fehltritte in Ghost Prayers hin. Das ist nicht weiter schlimm, es waren lehrreiche Fehler.
I’ve travelled many roads
Not all of them were good
Ironischerweise stehen The Beauty of Gemina nun an einer Kreuzung, an der sie ihren neuen Sound gefunden haben. Sie müssen sich entscheiden, welche Richtung sie nun einschlagen werden. Crossroads ist das ehrliche Eingeständnis, dass sie zweifeln, aber auch ein Leuchtfeuer, auf das man in dunkeln Zeiten zurückblicken kann. Es ist das Vertraute, eine sichere Zuflucht. Der rote Punkt auf der Landkarte, der anzeigt: Sie sind hier.