Die Suche nach dem neuen Gemina-Sound

The Beauty of Gemina haben sich in den letzten zwei Jahren deutlich verändert. Wir begaben uns auf Spurensuche durch die neue Live-DVD, einen Konzertabend voller Überraschungen und einem Gespräch mit Michael Sele.

Die Suche nach dem neuen Gemina-Sound
Bild: Cornelius Fischer
«Ladies and gentlemen, make some noise for The Beauty of Gemina!»

Jubelrufe. Applaus. Bilder in schwarz-weiss. So beginnt das Live-Dokument A Dark Acoustic Night der Schweizer Band The Beauty of Gemina, aufgezeichnet im legendären Zürcher Club Moods.

Das mystische Intro führt uns direkt in die bedeutungsschwangere Landschaft der Kingdoms of Cancer. Die Band schwingt sich langsam hoch – Strophe für Strophe – bis zum pathetischen Höhepunkt. Es ist nur einer von vielen.

Ein unsterbliches Denkmal

Auch zwei Jahre nachdem das hochgelobte Akustik-Album The Myrrh Sessions erschienen ist, lässt sich die Faszination der Interpretationen nicht vollständig erfassen. Man könnte nun Phrasendrescherei betreiben. Schreiben, dass The Beauty of Gemina aus professionellen Vollblut-Musikern besteht. Dass sich die Band erst akustisch voll entfaltet. Doch das haben wir alles schon gelesen.

Tatsache ist, dass sich die Band um Michael Sele mit der DVD ein unsterbliches Denkmal gesetzt hat. The Beauty of Gemina sind akustisch unbestreitbar das Aufregendste, was die hiesige Musiklandschaft zu bieten hat. Nicht weil die Aufnahmen besonders spektakulär sind – Die DVD ist liebevoll ausgestaltet.

Doch die wahre Magie ist unsichtbar: Man spürt die Symbiose der Musiker, sie verschmelzen zu einer Einheit. Nein, sie sehen sich kaum an und doch fühlen sie jeden einzelnen Handgriff des anderen, agieren und reagieren mit der Musik.

Die Instrumente erhalten endlich ihren berechtigten Platz, schlängeln sich durch die Arrangements, entwickeln ein Eigenleben. Im Moods spielten sich die Musiker trotz der Schwere von Songs wie Hunters in eine regelrechte Trance. Ein Düsterrausch.

Unermüdlich und unersättlich

Aarau. Nach Tagen schönen Sonnenscheins regnet es in Strömen. Die abgewetzten Bodenbretter im KiFF erzittern unter den Bässen von Sono. Emsig huschen die Musiker hin und her, bauen die Bühne auf. Nach beinahe zehn Jahren arbeitet die Band immer noch selbst ­– unermüdlich und unersättlich.

Die Band und Crew steigen die schmale Treppe hinab zum Abendessen. Der Backstage ist leergefegt. Nur der Kühlschrank summt sein monotones Lied. Nach dem Essen zieht sich die Band zurück und wir bleiben vor der Tür, rauchen und diskutieren über die Entwicklung der Musiker.

«Solche Aufnahmen sind der Traum jeder Band»

Wir drücken Play. Im Moods streicht Cellist Raphael Zweifel mit stoischer Mine und kraftvollem Impuls den Bogen über die Saiten. Umgeben vom weissen Dunst leidet Mac Vinzens den untröstlichen Schmerz von In Silence mit. Und Sele’s Finger huschen wie ein aufgeschrecktes Reh über die elfenbeinfarbenen Tasten seines Flügels.

«Solche Aufnahmen sind der Traum jeder Band. Aber es ist eine aufwändige Sache, für die wir bisher keine Zeit gefunden haben.» – Michael Sele sitzt auf einem hässlichen Sofa vor dem KiFF-Backstage und drückt eine Zigarette aus. «Ich bin sehr zufrieden mit den Aufnahmen. Wir hatten ja nicht den Luxus, während einer ganzen Tour filmen zu können. Wir hatten eine einzige Chance, ein Konzert.»

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«Ich bin sehr zufrieden mit den Aufnahmen.» – Michael Sele im KiFF. Bild: Cornelius Fischer

Trotzdem stand die Band vor dem Auftritt im ausverkauften Moods unter speziellem Druck. Zwei Konzerte hatten sie zuvor gespielt. Sie waren aufgewärmt. Und der Regisseur Marcello Naef, der The Beauty of Gemina bereits seit den frühen Jahren kennt, fing das Konzert-Moment ohne Abstriche ein.

«Wir sehen das Akustische als Teil von The Beauty of Gemina» 

Ausverkauft war das KiFF im Gegensatz zum Moods nicht. Nein, das Publikum blieb überschaubar. Der Vorhang öffnet sich und Sele’s tiefe Stimme vibriert durch die Lungenflügel. Der Start zu einem «Abend voller Überraschungen», wie es die Band vorab ankündigte. Und der Beginn eines Konzerts, das ein Tick zu laut für ein angenehm akustisches Erlebnis war.

Mit Golden Age nimmt der Gemina-Zug erstmals Fahrt auf. Angetrieben durch die dampfenden Drums und die flinken Finger von Bassist Andi Zuber. Sele spielt wie noch nie mit seinen Zeilen, seiner Stimme. Gewaltig wie ein Machthaber, verzweifelt wie ein ängstliches Kind.

Eine Band beschränkt ihre akustischen Eskapaden meist auf ein Projekt, das irgendwann zu Ende ist. Doch The Beauty of Gemina scheinen die Myrrh Sessions nicht loszulassen. Michael Sele zündet sich eine neue Zigarette an: «Dieser Schritt zurück in das Reduzierte, zu den Instrumenten und zum Songwriting ist ein Kreis, der sich bei mir schliesst. Als wir noch jung waren, machten wir ohne Computer Musik. Die Akustik macht uns sehr viel Spass und es hat auch gezeigt, dass die Intensität nicht schlechter wird. Heute sind wir eine Band, die das Akustische als Teil von The Beauty of Gemina sieht. Ich glaube, dass diese Vermischung noch mehr stattfinden wird. Vielleicht gibt es eines Tages nicht mehr Gemina-Akustik und Gemina-Rock, sondern nur noch eine Form.»

Wie im Rausch

Es gibt viele unglaubliche Momente auf der DVD zu sehen. Doch Dark Rain spielt in einer anderen Liga. Dieser Song ist akustisch ein Meisterwerk – filigran und unzerstörbar. Es reisst dich fort in die Prärie des Wilden Westens auf einen Roadtrip in einem alten Chevy, mattschwarz wie Sele’s Gitarre. Eine unglaubliche Energie erfasst die Bühne, ein raues Saloon-Ambiente. Und die Kapriolen von Eva Wey’s Violine lassen die Nackenhaare zu Berge stehen. Die Band entwickelt eine solche Wucht, dass die Konzertbestuhlung zur verteufelten Fessel wird.

Mariannah. «Mit der ersten Single Mariannah haben wir bewusst einen Song gewählt, der polarisiert», erzählt Sele, «Wir hätten auch Darkness nehmen können oder einen anderen Song, bei dem klar war, dass er den Fans gefallen würde. Doch Mariannah ist die wichtigste Protagonistin auf Ghost Prayers. Einige Fans fanden es den besten Song überhaupt, andere lehnen ihn komplett ab.»

Eine neue Herausforderung

Doch nicht nur Mariannah hat einige Anhänger vor den Kopf gestossen. Das gesamte Album Ghost Prayers klingt reduziert. Sele beschreibt es als organisch, natürlich und deshalb auch wärmer.

The Beauty of Gemina - Ghost Prayers
Die akustische Reise war für The Beauty of Gemina eine Explosion. Das bekannte Klanggefüge wurde in seinen Grundfesten erschüttert. Mit «Ghost Prayers» bricht die Schweizer Band Konventionen und Genre-Grenzen auf. Eine Betrachtung.

«Gewisse Songs aus den ersten Alben sind stark geprägt durch die elektronischen Elemente. Ich glaube schon, dass die Fans gerne wieder einen Song in der originalen Version hören möchten. So geht es mir ja auch. Ich finde die Elektronik nach wie vor ein spannendes Ausdrucksmittel, das ein Teil von The Beauty of Gemina bleiben wird.» 

Doch sind gerade diese elektronischen Mittel auf Ghost Prayers beinahe verschwunden oder so unscheinbar, dass die Band im Vergleich zum Debütalbum eine komplett andere zu sein scheint. Sele verteidigt sich:

«Auf Diary of a Lost finden sich Songs mit 60 oder 70 Spuren. Das hat mit meiner musikalischen Biographie zu tun. Vor The Beauty of Gemina war ich Gitarrist bei Nuuk. Damit nicht jeder sagt, dass es wie Nuuk klingt, habe ich mich bewusst im ganzen Programming und den Samples ausgelebt. Aber man kommt doch immer zu seinen Wurzeln zurück. Ghost Prayers habe ich mit dem Klavier, der Gitarre und der Stimme geschrieben – ohne Computer. Deshalb ist die Herausforderung eine andere: Wie kann ich mit traditionellen Songstrukturen mit Strophe und Refrain etwas kreieren, dass doch nicht zu beliebig ist?»

Die fetten Jahre sind vorbei

Die Gothic-Szene ist für Michael Sele immer noch die Heimat. Aber: «Ich musste feststellen, dass sich die Szene verändert hat. Sie ist teilweise weggebrochen und ich habe mich gefragt: Wieso? Ich habe diesen Umstand auf The Lonesome Death of a Goth DJ thematisiert. Irgendetwas läuft falsch. Es gibt keine neuen Bands, die es ganz nach oben schaffen. Die Szene scheint kein Interesse daran zu haben. Es stagniert. In Deutschland sind es immer die gleichen Headliner.»

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«Irgendetwas läuft falsch. Es gibt keine neuen Bands, die es ganz nach oben schaffen.» – Michael Sele über die Gothic-Szene im Gespräch mit Negative White. Bild: Cornelius Fischer

Ob er von der Szene frustriert sei, fragten wir Sele darauf.

«Nein, aber es schmerzt mich. Als wir 2006 mit The Beauty of Gemina angefangen haben, spürte man bereits, dass die Neunziger vorbei sind. Die Zeit der grossen Partys, wo es überall Hochburgen gab. Zum Glück gibt es die Band noch, aber so viele Partys und Veranstalter sind verschwunden. Man sieht die Szenegänger kaum mehr auf den Strassen.»

Totalausfall

The Beauty of Gemina boten in Aarau tatsächlich einen Abend voller Überraschungen. Auch wenn sie es wohl nicht so gemeint hatten. Während Hunters fällt plötzlich der Sound komplett aus. Gitarrist Marco Gassner schüttelt entnervt den Kopf. Sele blickt seine Mitmusiker ungläubig an.

Nach einem kurzen Moment, der für die Band wie eine Ewigkeit gewesen sein muss, ist der Ton zurück. Sie spielen sich zu einem pulsierenden Instrumental vor, als Seles Piano wieder für einen Wimpernschlag aussteigt. Der hochgewachsene Mann wirkt nach aussen gelassen, doch im Innern des Perfektionisten muss es brodeln.

Nach Hunters steigt die Anlage wieder aus und kommt nicht zurück. Ist der Abend schon zu Ende, nach nur drei Songs? The Beauty of Gemina verlassen die Bühne. Nur Raphael Zweifel bleibt alleine mit seinem Cello zurück und spielt ein katalanisches Stück, ganz ohne Verstärker. Man hört den Rest der Band lautstark hinter der Bühne.

Nachdem Zweifel zu Ende gespielt hat und mit grossem Applaus belohnt wurde, kommt die Band zurück. Sie braucht noch einige Strophen, bis sie sich wieder gefangen hat. Da kommt ihnen In Silence gerade recht, denn das dunkle Lied bringt Ruhe in das Set. Und als Sele zu einem düster-jazzigen Solo ansetzt, halten alle den Atem an und hoffen, dass diesmal alles gut geht.

Der Gemina-Zug fährt unbeirrt weiter 

Nach einigen Songs sind wir beim rhythmischen «Tschaka-Tschaka» der Schienen unter der unermüdlichen Lok namens Mac Vinzens. Down By The Horses ist ein fieser Song. Er klingt gleichbleibend, wiederholt sich schnell. Hört man aber genau hin, fallen einem die kleinen Schlenker der Violine, der Gitarre auf. Jede Strophe klingt anders. Die Musiker brechen aus wie kleine Fohlen.

Mit Whiskey begiessen The Beauty of Gemina schliesslich ihre brandneue DVD im KiFF. Geölte Kehlen für One Million Stars. Der Alkohol wärmt ihre Glieder und die Band kniet sich nochmals voll rein. Was für eine druckvolle Darbietung! Mit Dark Revolution spielen sie sich nochmals in eine andere Welt. Michael Sele schwankt hinter seinem Piano zur Musik, als hätte er bereits eine ganze Flasche des Whiskeys gekippt. Doch er ist hochkonzentriert, auch wenn seine Hände geradezu über die Tasten hüpfen.

Rumours beschliesst den Abend voller Überraschungen mit seinen schlicht wunderschönen Klängen. Beständigkeit durch die breiten Streicher und dem sanften Treiben der Drums. Und darüber schwebt eine mäandernde Melodie. Gänsehaut.

Ein Jahrzehnt für einen Bubentraum

2016 wird The Beauty of Gemina zehn Jahre alt.

«Ich hätte nicht gedacht, dass die Band mal zehn Jahre alt wird. Wir hatten zwar mit Suicide Landscape einen fulminanten Start. Aber wir dachten, wenn es uns nur schon gelänge, in Zürich Fuss zu fassen, wäre das bereits ein grosser Schritt. Natürlich hatten wir Durststrecken und Rückschläge. Wir kämpfen immer noch, das Musikgeschäft ist hart. Einerseits bin ich sehr dankbar für alles, andererseits spüre ich, dass ich noch nicht am Ziel bin.»

Sele möchte sich noch einen Bubentraum erfüllen. Bild: Cornelius Fischer

Und ein Ziel für Sele ist die eigene Tour. So richtig on the road sein. Das sei ein Bubentraum von ihm. Man merkt dem Mann an, dass er beharrlich arbeitet, um seine Träume zu erreichen. Und er hat gute Chancen, es mit seinen Mitmusikern endlich zu schaffen. Die Chemie stimmt. Es ist als spielte die Band genau in dieser Zusammensetzung bereits seit der Gründung. Es sind reife Musiker, die ein Bewusstsein für das Privileg haben, in dieser Formation zu spielen.

Wenn Ende Januar 2016 das siebte Album von The Beauty of Gemina erscheint, wird die Band nochmals an Erfahrung gewonnen haben. Sie werden die Szenegrenzen nicht überschritten und nicht gesprengt haben. Sie werden die Konturen einer neuen Musikrichtung genauer definieren. In Griechenland nennen es die Fans Progressive Wave.

Ich nenne es den neuen Gemina-Sound.