Für Oasen der Tubelei!
Konzerte mit dem Handy filmen und dazu laut mit der Nachbarin quatschen – davon fühlen sich viele gestört. Doch lohnt es sich, die Störenfriede zurechtzuweisen? Nein! Ein Plädoyer für den Exzess der anderen.
Eine Replik von David Hunziker auf den Gastbeitrag «Plädoyer fürs Schnauzehalten an Konzerten»
Ich kenne das Problem. Auch ich habe es erlebt, dass mein Konzertfriede von plaudernden PublikumsnachbarInnen gestört wurde. Das Konzert, das mir beim Gedanken daran in den Sinn kommt, ist nicht einmal ein stilles oder gar intimes – ganz im Gegenteil. Es war eines der Drone-Metal-Band Sunn O))) in Vevey – etwas vom Lautesten, was ich je gehört habe.
Man muss sich das so vorstellen: Rhythmus oder Harmonie gibt es bei Sunn O))) höchstens in Andeutungen, dafür fluten die beiden Gitarren mithilfe einer ganzen Wand von Verstärkern den Raum mit einem dichten Sound. Man spürt dabei tatsächlich, dass sich dieser Sound in jeden Winkel des Raums ergiesst. Irgendwann gibt es nur noch Dröhnen und Körper.
Nun standen da also zwei Typen, etwa zwei Meter von mir entfernt, die sich lautstark unterhielten. Die Gespräche wurden nun nicht im Sound ertränkt und aufgelöst, wie man hätte erwarten können. Es war vielmehr, als würde der reibungslose Fluss der Schallwellen an den Stimmen gebrochen, grosse Löcher taten sich plötzlich in der Soundwand auf. Die Beobachtung, wie etwas so Gewaltiges wie dieser Sound so brüchig sein kann, war eindrücklich. Aber die beiden Typen waren auch obernervig. Trotzdem habe ich nichts gesagt.
Habe ich das Recht, sie zurechtzuweisen?
Ich kenne das Problem auch von der anderen Seite. Wir sassen bei Elton John auf der Tribüne im Hallenstadion. Vor uns leerte sich ein Gin Tonic nach dem anderen und wir hatten einen Heidenspass. Bis sich jemand aus der Reihe hinter uns nach vorne beugte und sich beschwerte, wir seien viel zu laut. Für uns war das ein Dämpfer, doch eigentlich hatte die Person recht – blutleeres Schweigen passte besser zu dieser sterilen Stadionshow als unsere ausgelassene Heiterkeit.
Manche sagen, es werde immer schlimmer mit der Konzertplauderei. Der Respekt vor den MusikerInnen und den anderen KonzertbesucherInnen verschwinde. Eine solche Tendenz festzustellen ist natürlich schwierig. Wer weiss, vielleicht hat deine Mama während des ganzen Konzerts von Jimi Hendrix 1968 im Hallenstadion darüber geplappert, welches Motorrad sie bald kaufen will. Aber ist es überhaupt schlimm, wenn Leute sich während Konzerten unterhalten? Und: Habe ich das Recht, sie zurechtzuweisen?
Was es 1968 im Hallenstadion hingegen noch nicht gab, mit der Konzertplauderei aber verwandt ist: mit dem Handy andere Sachen machen als das Konzert hören. Radiohead am Open Air St. Gallen 2016. Von Leuten, die dort waren, höre ich immer wieder dieselbe Geschichte: Viele hätten sich null für das Konzert interessiert, obwohl dieses für das Sittertobel doch ein echtes Ereignis war, und stattdessen lieber einen Match der Fussball-EM auf ihrem Handy geschaut. Dazu hätten die Leute auch noch laut gesprochen, oder noch schlimmer: im Bacardi Dome getanzt! Solche Erlebnisse sind es wohl, die MusikerInnen wie die Post-Punkerinnen von Savages dazu bewegen, Handys an ihren Konzerten gleich ganz zu verbieten.
Das ist zwar verständlich – aber es riecht auch arg nach Kulturpessimismus: Was sind das für Menschen, die nur noch in ihre Bildschirme schauen! Da ist der Ansatz von Mark Stewart, Sänger der legendären Band The Pop Group, schon viel erfrischender. Beim Konzert in der Berner Dampfzentrale 2017 richtete er eine kurze Ansprache an die HandyfilmerInnen. Es sei ihm völlig egal, wenn jemand das Konzert filme, er finde es nur schade, dass niemand etwas Kluges mit den Aufnahmen anzufangen wisse. Macht doch Konzeptkunst daraus!
Es geht darum, den Genuss der anderen zu akzeptieren
Nun ist die Sache bei der Plauderei etwas komplizierter, Gespräche während Konzerten können kaum in Kunst verwandelt werden. Und sie richten sich direkt gegen das Hörerlebnis. Man könnte sich am Gespräch beteiligen, aber man ist ja für die Band gekommen. Die Gespräche bleiben also, als was sie kritisiert werden: eine Störung.
Doch es gibt – Achtsamkeit und Respekt in Ehren – einen anderen Wert, der gefährdet wird, wenn wir unsere KonzertnachbarInnen zurechtweisen. Es geht darum, den Genuss der anderen auch dann zu akzeptieren, wenn er überbordet, laut ist, vielleicht stinkt, einfach viel Raum einnimmt.
Stell dir vor, du bist an einem Konzert mit guten Freunden, hast dich total abgeschossen, laberst dumm in der Gegend herum, stösst gegen andere, weil du kaum noch stehen kannst. Ist es nicht eine wunderbare Geste, wenn dich die Leute um dich herum einfach machen lassen? Der Exzess der anderen hat einen Wert, und der Exzess hat es gerade an sich, dass er Grenzen überschreitet. An der Kutte von Metalheads sieht man manchmal einen Patch mit der Aufschrift «EXTREME MUSIC FOR EXTREME PEOPLE» – das glaube ich erst, wenn ich es gesehen habe.
Natürlich gibt es respektloses Verhalten, das zurechtgewiesen gehört – vor allem, wenn es sexistisch oder rassistisch ist. Doch wir leben bekanntlich in einem Land der Zurechtweisung, es braucht hier meist nicht viel, bis sich jemand gestört fühlt. Das ist nicht überall so. Ein Freund hat mir zum Beispiel erzählt, dass es in Indien völlig üblich sei, dass die Leute im Kino lautstark den Film kommentieren. Daran muss man sich sicher gewöhnen – doch es lohnt sich. Das nächste Mal bist du vielleicht mitten drin im Exzess und nicht mehr nur dabei. Im besten Fall bleibt das eine oder andere Rock’n’Roll-Konzert eine Oase der Tubelei.